Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
ein dreibeiniger Hocker nie wackelte, so sei es nahezu ausgeschlossen, dass ein dreibeiniger Bhavabhuti jemals wanken könne, lautete seine einleuchtende Erklärung.
So kam David also an seinen ständigen Begleiter. Gerne hätte er mit dem Vater ein wenig darüber gestritten, ob es wirklich notwendig sei, ihm diesen »abgebrochenen Schatten« anzuhängen (Balu war nicht größer als Maggy), aber erstens bekam er Geoffrey kaum noch zu Gesicht und zweitens wollte er dessen geistige Zerfahrenheit nicht noch durch seinen Widerspruch verstärken. Also ergab sich David in sein Schicksal und schleppte hinfort einen dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Leibwächter mit drei Beinen hinter sich her.
Balu Dreibein war nicht sonderlich gesprächig. Vielleicht wurzelte diese Schweigsamkeit ja in der Last seiner vielen Leben. Jedenfalls ging Balus wortkarge Ehrerbietigkeit David gehörig auf die Nerven. Bald entstand daraus eine natürlich bedingte Ignoranz, wie sie ja die meisten Leute ihren Schatten angedeihen lassen. David war bestimmt nicht hochnäsig, aber was sollte er denn tun, wenn alles, wozu sich Balu aufschwingen konnte. »Ja, Sahib«, »Nein, Sahib« und »Zu gefährlich, Sahib« war?
An einem Donnerstag Ende August mündete das ambivalente Verhältnis der beiden in ein klärendes Gewitter. Noch hatte die Schule nicht begonnen, noch war David frei zu gehen, wohin er wollte – wenn da nicht ständig dieser Leibwächter an ihm kleben würde!
David hatte sich im St. James’s Park etwa eine Viertelstunde lang redlich bemüht den Inder abzuhängen. Mit weit ausholenden Schritten, immer knapp vor dem für einen Viscount unziemlichen Dauerlauf, war er über die Kieswege getrabt, aber Balu nutzte geschickt seine drei Beine, um nicht den Anschluss zu verlieren. Dies gelang ihm so gut, dass er fast in David hineingestolpert wäre, als dieser abrupt stehen blieb, sich umdrehte, die Arme vor der Brust verschränkte und fauchte: »Balu, kannst du nicht etwas mehr Abstand halten?«
»Nein, Sahib.«
»Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie sehr es mir auf die Nerven geht, wenn du mir ständig so an den Fersen klebst?«
»Ja, Sahib.«
»Und warum hältst du dann nicht etwas mehr Abstand? Hundert Yards würden ja schon genügen.«
»Zu gefährlich, Sahib.«
»Aber du machst mich zum Gespött aller Leute. Das willst du doch nicht, oder, Balu?«
»Nein, Sahib.«
»Gut, dann hör mir jetzt bitte genau zu.«
»Ja, Sahib.«
»Du bleibst jetzt hier stehen, ich gehe los, und erst wenn ich fünfzig Yards weit entfernt bin – das ist mein letztes Angebot! –, dann setzt du deine drei Beine wieder in Gang.«
»Zu gefährlich, Sahib.«
David stöhnte laut auf. »Ich kann mich ganz gut selbst beschützen, du alter Starrkopf!«
»Nein, Sahib.«
»Doch, Balu!«
»Nein, Sahib.«
»Dann machen wir die Probe aufs Exempel.«
Der kleine Inder sah David verdutzt an. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sein junger Herr von ihm wollte. David zeigte Verständnis dafür und präzisierte: »Du greifst mich jetzt an.«
»Nein, Sahib.«
»Und ich werde dich abwehren.«
»Nein, Sahib!«
»Wenn du gewinnst, darfst du mir weiter in die Hacken treten, wenn nicht, bleibst du einen Steinwurf weit hinter mir.«
»Nein, Sahib!«
»Keine Widerrede, Balu. Es ist mein letztes Angebot. Dieses vornehme Getue hängt mir sowieso schon zum Halse heraus. Es würde mir also nichts ausmachen, meine Beine in die Hand zu nehmen und wie ein Taifun davonzurauschen. Sieh uns beide an, Balu. Meine Beine sind ziemlich lang! Länger als deine drei zusammen.«
Der kampferprobte Inder blickte David grübelnd an. Er hatte einen Auftrag und war es gewohnt, sein Leben zur Erfüllung desselben einzusetzen. Allerdings stellte ihn die Widerspenstigkeit seines Schutzbefohlenen vor eine gänzlich neue Situation.
»Was ist?«, drängte David. »Du denkst doch jetzt, der Tiger von Meghalaya könnte diesem vierzehnjährigen, verzärtelten Adelsbübchen ruhig einmal eine Tracht Prügel besorgen, stimmt’s?«
Zugegeben, diese Frage war etwas unfair. David hatte damit ganz bewusst seine Gabe der Wahrheitsfindung benutzt. Balu stammte aus einfachen Verhältnissen und war es gewohnt, dass bei über dreißig Jahren Altersunterschied der Jüngere dem Älteren mit etwas mehr Respekt begegnete. Ehe er sich dessen bewusst wurde, knurrte er daher: »Ja, Sahib.«
»Gut, dann greif mich jetzt an.«
Während Balu noch zögerte, entledigte sich David schon seines Gehrocks,
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