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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bei ihm logierte, in dieses eingepasst: War der Besucher zu kurz, musste er gestreckt werden, war er zu lang, hackte der Unhold ihm die überstehenden Gliedmaßen ab. Eines Tages kam Theseus vorbei, zierte sich, das Angebot des Gastgebers anzunehmen, und bestand darauf, dass erst der Unhold das Bett benutzen solle. Nachdem er diesem den Kopf abgeschlagen hatte, passte der Räuber einigermaßen in die eigene Schlafstatt hinein. Seit diesen Tagen spricht man von einem Prokrustesbett, wenn sich jemand nur durch schmerzliche Anpassung in ein vorgegebenes Schema einfügen lässt.
    Westminster School war für David das Prokrustesbett schlechthin. Dies ließ sich an zahlreichen Dingen festmachen. Über die Totengräberkleidung wurde ja bereits gesprochen. Mit dem Herannahen des ersten offiziellen Schulgangs zeichnete sich ein weiteres peinliches Problem ab: Wo sollte er Balu Dreibein verstecken?
    Es war undenkbar für David, mit seinem Leibwächter in die Schule zu spazieren. Für andere Knaben mochte das nicht unbillig sein, aber David wurde schon rot, wenn er allein daran dachte. Er wollte sich nicht als zimperliches Muttersöhnchen einführen, das ständig einen Aufpasser brauchte. Sein Dilemma ist damit wohl erschöpfend beschrieben: Balu gehörte zu jenen überstehenden »Gliedmaßen«, die einfach nicht in das Prokrustesbett passten, weshalb die in solchen Fällen gebräuchliche Verfahrensweise geboten war.
    »Willst du etwa mit in die Schule kommen?«, fragte David seinen Leibwächter am Tage vor dem großen Tag. Er hatte sich zu diesem Zweck ins Souterrain von Camden Hall begeben, wo sich die Räume des Gesindes befanden.
    »Ja, Sahib.«
    »Aber du weißt doch, dass kein anderer Schüler einen Bediensteten haben darf, abgesehen von den fags natürlich.« (So nannte man die persönlichen »Sklaven«, die kleinen Jungen also, die sich für ihre älteren Mitschüler abschinden mussten.)
    »Nein, Sahib.«
    »Na gut, jetzt weißt du es. Ich möchte, dass du vor dem Schulgebäude auf mich wartest. Du kannst auch spazieren gehen oder dich im Winter im Pub rumdrücken. Ist mir alles egal. Hauptsache, du kommst nicht mit hinein.«
    Balu Dreibein schüttelte energisch den Kopf. »Zu gefährlich, Sahib.«
    »Ach, hör schon auf! Du weißt, dass ich nicht wehrlos bin.«
    »Ja, Sahib.«
    »Dann wirst du also schön draußen bleiben, hast du mich verstanden?«
    »Nein, Sahib.«
    »Und warum nicht?«, zeterte David und hob sogleich die Handflächen. »Schon gut, sag’s nicht. Es ist zu gefährlich.«
    »Ja, Sahib.«
    »Ich werde dich bestimmt nicht verpfeifen, Balu, wenn es das ist, wovor du dich fürchtest. Arbeitslos wirst du also nicht. Und sonst kann ich genauso gut für mich kämpfen wie du, oder siehst du das anders?«
    »Ja, Sahib.« Balu griff mit der Hand unter seinen Rock und zog einen Trommelrevolver mit langem Lauf hervor. »Ich habe das hier, Sahib.«
    David hob die Augenbrauen. »Du bist ja mit einem Mal richtig gesprächig.« Innerlich seufzte er. Dieses braune Männlein war fast so verbohrt wie Großonkel Francis. Aber bei dem hatte er ja schließlich auch einen Weg ins Verstandeslabyrinth gefunden. Er hatte eine Idee.
    »Ich mach dir einen Vorschlag, Balu.«
    »Balu möchte nicht mit Sahib Camden kämpfen.«
    »Es ist kein richtiger Kampf. Nenn es eine Probe, wenn du willst.«
    Balu sah nicht so aus, als hätte er das verstanden.
    »Wir gehen jetzt in den Weinkeller«, erläuterte David daher, »und du wirst auf mich schießen.«
    Balus dunkle Augen wurden riesengroß.
    »Nein, Sahib!«
    »Aber wieso denn nicht?«
    »Balu kann nicht auf Sahib Camden schießen. Sahib Camden wird tot sein.«
    »Ach was, ich werde nicht tot sein. Das will ich dir doch gerade zeigen. So schnell lasse ich mich nicht abmurksen.«
    »Balu schießt nicht auf Sahib Camden.«
    »Also gut«, gab David nach. Er sah ein, dass er mit seiner Forderung etwas zu weit gegangen war. Balu war ja kein Meuchler, ganz im Gegenteil. »Du darfst dicht an mir vorbeischießen.«
    Wieder malte sich Unverständnis auf Balus Gesicht.
    »Ja, so machen wir’s. Du brauchst mich nicht zu verletzen, also musst du tun, was ich von dir verlange.«
    Balus Antwort war ein unwilliges Knurren. »Ja, Sahib.«
    Wenige Sekunden später standen beide im Weinkeller von Camden Hall, einem lang gestreckten Gewölbe von beträchtlichen Ausmaßen. David stellte eine brennende Kerze auf ein Fass, dicht vor der rückwärtigen Wand und postierte sich daneben. In der Hand hielt er

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