Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
war, sondern hinab zur Westminster Bridge und von dort nordwärts an der Themse entlang. So mancher mochte sich wohl gefragt haben, was den vorbildlich gekleideten Herrn mit Bowler und Stock zu solcher Eile antrieb.
Als Geoffrey zwei am Wasser sitzende Veteranen des Burenkrieges passierte, rief der eine: »Was ist denn in den gefahren?«
Der andere hob die Schultern, schob die Unterlippe vor und antwortete: »Wer weiß, vielleicht hat er das Gespenst des Krieges gesehen.«
Alte Ängste und neue Perspektiven
Was eine Heimkehr in den Hort der Sicherheit werden sollte, entpuppte sich für David als ein Alptraum. Das hatte viele Ursachen. Die weitaus tragischste davon war die Verwandlung seines Vaters. Noch am Montagmorgen, dem Tag nach ihrer Ankunft in Camden Hall, hatte ein nicht gerade gut gelaunter, aber doch innerlich gefestigter Earl das Haus verlassen. Der Mensch, der einige Stunden später zurückkehrte, war nur noch ein Zerrbild von Davids Vater, ein gebrochener Mann.
Weder Mutter noch Sohn konnten sich erklären, was mit Geoffrey geschehen war. Er kam völlig außer Atem zu Hause an, die Augen glasig, wie auf ein fernes Ziel gerichtet, und schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein. Maggy klopfte eine Zeit lang an die Tür und flehte ihn an, ihr zu öffnen. David stand dahinter, in seinen Eingeweiden ein lähmendes Gefühl der Angst. Regelmäßig pendelte Großonkel Francis wie ein Fährschiff vorüber, kicherte und brabbelte irgendwelchen Unsinn über die Eroberung des Hafens von Cadiz. Nach einer Weile gab Maggy die Belagerung des Arbeitszimmers erschöpft auf Geoffrey ließ sich erst am Abend wieder sehen, als er Maggy und David zu sich rief.
»Nehmt bitte Platz«, sagte der Earl zu Frau und Sohn. Er deutete auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen, umrundete diesen und ließ sich schwer in den eigenen Sessel sinken. David verfolgte beklommen die fahrigen Bewegungen dieses gebeugten Mannes mit der fahlen Gesichtshaut und den müden Augen. Sein Vater schien in den letzten fünf Stunden um Jahrzehnte gealtert zu sein. Geoffrey schob Maggy langsam eine hölzerne Schatulle zu, die David nur allzu gut kannte.
»Hier, nimm das an dich, Liebling.«
Davids Mutter blickte ungläubig in das Gesicht ihres Mannes. Auch ihr war das Kästchen nicht fremd. »Warum behältst du es nicht bei dir?«
»Weil ich möchte, dass du es für David verwahrst, bis er volljährig ist.«
In Maggys Stimme mischte sich zusehends Panik. »Du tust ja gerade so, als wollest du uns verlassen, Geoffrey. Warum gibst du ihm die Schatulle nicht selbst, wenn die Zeit dafür reif ist?«
»Ich möchte ja nur, dass du auf sie Acht gibst, Liebling. Sollte mir irgendetwas zustoßen…«
»Was redest du da?«, fiel Maggy ihrem Mann ins Wort. Sie war sichtlich bestürzt. Die Dämme ihrer Tränen drohten jeden Moment zu brechen. David kannte dieses Beben ihrer Stimme, das feuchte Glitzern ihrer Augen.
»Nun beruhige dich doch bitte, Liebling. Du und David, ihr wisst beide, dass dieses Kästchen mein Leben enthält, aufgezeichnet in einem Diarium. Außerdem befindet sich darin eine Abschrift meines Testaments. Das Original soll William in seinem Notariat deponieren. Ich habe es bereits in Wien beglaubigen lassen und wollte es dir dort übergeben, aber… Ihr wisst ja selbst, wie mit einem Mal alles drunter und drüber gegangen ist.«
Endlich fand David den Mut zu sagen, was ihn bewegte. Auch seine Augen füllten sich mit Tränen, als er seinen Vater anflehte: »Warum erzählst du uns nicht, was du in diesem Buch eingeschlossen hast, Papa? So ist es doch, oder? Es bedroht dich wie ein blutrünstiges Untier und du wolltest es dir von der Seele schreiben, um es in diesem Diarium und der Schatulle einzusperren. Aber selbst dort lässt es dir keine Ruhe. Bitte! Vertraue doch Mama und mir. Es wird dir bestimmt besser gehen, wenn wir deinen Kummer mit dir teilen können.«
Wie unter Schmerzen entglitten Geoffreys Züge für einen Moment seiner Kontrolle, ehe er sie im Netz eines schwachen Lächelns wieder einfing. »David, wie verständig du geworden bist, obwohl du nicht einmal fünfzehn Jahre zählst. Ich bin stolz auf dich. Aber ich habe es dir schon einmal vor langer Zeit gesagt: Du kannst noch nicht tragen, was ich in diese Schatulle – wie du ganz richtig sagst – eingeschlossen habe. Sollte ich sterben, bevor du volljährig bist, so überlasse ich es deiner Mutter, sie dir zu öffnen oder – was vielleicht
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