Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
endlich jemanden, der ihm beim Büffeln half. Der etwas schwerfällige Nicolas besaß zwar weder Yoshis Spritzigkeit noch Hitos Tiefgründigkeit, aber wenn man wusste, wie er zu nehmen war, dann kam man sehr gut mit ihm aus. Da David ihn nicht an Reverend Dr. Costley-White verraten hatte, wurde der linkische Nick für ihn bald zu einer Art anhänglichem Bernhardiner, der zwar gelegentlich nach links oder rechts knurrte, ihn auch mal ganz gerne neckte, ansonsten aber gutmütig und treu war.
Während der Sommer in den Herbst überging und sich David allmählich an das Leben im Frack gewöhnte, flammten auf dem Erdball immer neue Konfliktherde auf. »Nun wollen wir sie dreschen«, verordnete Kaiser Wilhelm II. seinen Truppen im Hinblick auf die Feinde und eine Zeit lang sah es wirklich so aus, als würde ihm das auch gelingen. Mit Österreich-Ungarn und der Türkei bildete sein Reich eine militärisch hoch gerüstete Achse, die Europa in zwei Hälften sprengte. Die Deutschen kämpften im Osten gegen Russland und marschierten im September in Nordfrankreich ein. Doch dann kam die russische Kriegsmaschinerie allmählich in Fahrt und damit der Vormarsch des Kaisers zum Stillstand. An der Westfront eilte Großbritannien den Franzosen zu Hilfe und so gerieten die deutschen Grauröcke auch dort ins Stocken, bis sie sich sogar auf eine Linie hinter der Aisne zurückziehen mussten. Der Traum vom schnellen, heldenhaften Sieg war schon nach sechs Wochen ausgeträumt. Nun begann der zermürbende Stellungskrieg.
In London hielt die Begeisterung noch ein wenig länger an als in den Ländern der Mittelmächte. Bei Kriegsbeginn hatten gleich eine Million Freiwillige die Rekrutierungsbüros verstopft. Eine allgemeine Wehrpflicht gab es ja noch nicht und die Anfangserfolge in den ersten Kriegsmonaten ließen den Zustrom auch so schnell nicht abreißen. Immerhin hatte das Eingreifen der Weltmacht Großbritannien die prahlerischen Deutschen zurückgeworfen und die Legende von der Unbesiegbarkeit der englischen Rotröcke bestätigt.
Aber dann tauchten immer mehr Soldaten in den Straßen der Hauptstadt auf, für die man an der Front keine Verwendung mehr hatte, weil sie ihre Arme oder Beine verloren hatten. Die Kriegsinvaliden wurden zwar allseits mit Pomp und Gloria geehrt, aber ihre Erzählungen hinterließen bei dem einen oder anderen doch Nachdenklichkeit. Auch gab es immer mehr Ehefrauen und Mütter, deren Männer und Söhne der Krieg wie reife Gerste geerntet hatte. Dem Verlust folgte Verdruss.
Nicht jeder war mehr bereit die großen Ziele der Nation auch zu seinen eigenen zu machen. Selbst Familien, die noch keinen toten Helden vorweisen konnten, bekamen allmählich zu spüren, was es bedeutete, wenn ein ganzes Land auf Kriegswirtschaft umschwenkte. So gut wie jeder stand, mehr oder weniger freiwillig, im Dienst des großen Schlachtens: Politiker und Militärs sowieso, aber auch Bauern, Fabriken, Läden, Zeitungen, Schulen, Kirchen, die Heilsarmee, der CVJM… Die Armee war das Hätschelkind der Nation. Sie bekam alles. Wer nicht kämpfen wollte, konnte oder durfte, ging leer aus. Nun, vielleicht nicht völlig leer, aber man spürte überall die Verknappung.
Ganze Berge von Fleisch wanderten erst in Konservendosen und anschließend an die Front. Selbst Fett und Brot wurden rar. Die Spinnereien webten nur noch Stoffe für Uniformen, wer modische Kleidung verlangte, begab sich in die Nähe von Vaterlandsverrätern. Da zahlreiche Londoner Busse zu Truppentransportern umfunktioniert wurden, herrschte in den verbliebenen eine unerträgliche Enge. Längst eingemottete Pferdeomnibusse wurden wieder in Dienst gestellt, was zwar den so sehr auf Distanz bedachten Engländern kaum mehr Komfort verschaffte, aber wenigstens Benzin sparte.
Weil die Rohstoffe so knapp wurden, das Land aber dringend Kanonen und Munition brauchte, kamen Altmetallspenden groß in Mode. Vorbildlich ging auch hier die Kirche voran. Sie opferte erst ihre Glocken und nötigte Gott dann nachher die daraus gebauten Waffen zu segnen.
Entsagung und Opferbereitschaft, sofern sie »von oben« verordnet wurden, waren für David stets ein Anlass zu großem Argwohn gewesen. In dem, was seine Mutter ihn gelehrt und was er über Ehre und Großmut gehört hatte, konnte er nur wenig finden, das ihn zum Abschlachten seiner Mitmenschen ermunterte. Aber trotzdem wurde es allenthalben getan. Es gehörte zur vaterländischen Pflicht eines jeden wehrtüchtigen Mannes. Auch die Jugend
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