Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
jenem Abschluss, ohne den man nicht mal einen Posten bei der Müllabfuhr bekam, geschweige denn in der Armee einen höheren Rang als den eines Gefreiten ergattern konnte. (In diesen Tagen hielt man eine steile militärische Laufbahn für das höchste Glück auf Erden.) Lord Seymour hatte seinen Sohn windelweich prügeln lassen und ihm ernsthafte Konsequenzen angekündigt, ihm sogar mit Enterbung gedroht, falls er nicht umgehend mehr Lerneifer an den Tag lege.
All das war David noch unbekannt, sonst hätte er wohl nicht gerade über die Langsamkeit des Großen gespottet.
Mit einem gekonnten Schwinger zielte der Große nach Davids linkem Auge. Ein Treffer hätte für diesen durchaus ernsthafte Folgen haben können. Zum Glück sah David den Angriff voraus. Er drehte sich geschickt unter dem Arm weg, packte ihn und nutzte die Wucht des Schlages, um damit gleich den ganzen Schläger durch die Luft zu befördern: Nicolas rollte über Davids rechte Schulter und landete rücklings auf dem Kiesweg.
Vor der Abtei ertönte eine Mischung aus mitfühlendem Stöhnen und bewundernden Rufen. Der weißhaarige Junge hatte nicht einmal seinen Regenschirm abgelegt.
Nicolas geriet nun erst richtig in Rage. Er hatte seinen schlaksigen Gegner falsch eingeschätzt und das verleitete ihn zu der eigentlich unlogischen Schlussfolgerung, mit mehr Kraft auch mehr Erfolg erzielen zu können. Er drückte sich nur halb vom Boden hoch und rannte unvermittelt mit gesenktem Kopf auf David zu. Der drehte sich wie ein Torero zur Seite, benutzte seinen Regenschirm wie ein katana und hieb ihn dem Wüterich quer über den Rücken.
Der von dem Treffer ins Stolpern geratene Große schrie auf – mehr vor Überraschung als vor Schmerzen –, fing sich gerade noch ab und wirbelte zu einem erneuten Angriff herum. Da packte ihn plötzlich eine Zange am Ohr.
Das Folterwerkzeug war ein fester Bestandteil von Reverend Dr. Costley-Whites rechter Hand, Daumen und Zeigefinger, um genau zu sein. Nicolas schrie vor Schmerzen auf. Der Reverend bedeutete David mit dem Zangenfinger der anderen Hand näher zu treten. Die Quaste seines quadratischen Baretts baumelte ihm dabei wie eine Kralle über dem Gesicht.
»Sie haben eine höchst ungewöhnliche Art sich in Ihrer neuen Schule einzuführen«, begrüßte er den Viscount of Camden. »Ist das japanische Tradition oder haben Sie diesen Brauch in Österreich aufgeschnappt?«
David erwiderte nichts.
»Wer hat mit dem Streit angefangen?«
Beide Jungen schwiegen.
»Aha, wir haben es hier also mit einer Verschwörung zu tun«, freute sich der Reverend. Er entließ Nicolas aus dem Zangengriff und bestellte die beiden Jungen nach dem Morgengebet in sein Büro. Dann versprühte er sein obligates Lächeln wie Weihwasser über das jugendliche Publikum und rief die Knaben zum Gebet.
»Der Apostel Paulus erhielt fünfmal vierzig Streiche weniger einen«, dozierte Reverend Dr. Costley-White etwa eine halbe Stunde später wie in einem Seminar für angehende Kleriker. »Aber das konnte diesen heiligen Mann nicht brechen. Wie viele Schläge würden Sie für angemessen halten, wenn Sie Ihr heutiges Verhalten in Betracht ziehen?«
Die Überlegenheit des englischen Bildungssystems lag auf der Hand. Man durfte sich seine Strafe aussuchen. Oder wenigstens eine Weile das Gefühl haben, diese Wahl treffen zu dürfen. David jedenfalls witterte eine Fangfrage hinter diesem verlockenden Angebot und hatte sich aufs Schweigen verlegt. Es machte wohl wenig Sinn, gleich am ersten Tag mit dem Rektor einen Krieg anzuzetteln. Außerdem hatte er aus Teilen der Strafpredigt von Dr. Costley-White herausgehört, in welch misslicher Lage sich Nicolas befand. Mit einem Mal tat ihm der Große Leid und er wollte ihn nicht noch in zusätzliche Schwierigkeiten hineinreiten.
Da David bei dem Reverend noch nicht vorbestraft war und Nicolas dank väterlicher Unterstützungsmaßnahmen noch über ein gewisses Guthaben verfügte, hielt sich die Strafe in einem erträglichen Rahmen. Jeder Schüler erhielt zehn Streiche mit dem Rohrstock auf den entblößten Allerwertesten. Diese gemeinsame Erfahrung schmiedete aus der Rivalität der beiden Jungen eine tiefe Freundschaft.
Orientierungshilfen
David und Nicolas waren in derselben Klasse. Das erleichterte vieles. David bekam schon im Voraus zu hören, was der Unterricht in den nächsten Wochen bringen würde, und Nick, wie David seinen neuen Freund der Einfachheit halber nannte, hatte
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