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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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»Pfuis« zu Gehör brachten.
    Mit der monumentalen Krönungs- und Grabeskirche des englischen Königshauses gleich in der Nachbarschaft war auch die nötige Infrastruktur für die religiöse Erziehung gegeben. Jeder Tag begann mit einem gemeinsamen Gebet in der Abtei. Während alle Jungen dort auf den Vorbeter, Reverend Dr. Costley-White, warteten, sahen sie aus wie eine Schar aus dem Tower of London entflohener Raben, die sich hier für den Weiterflug sammelten. Später dann, wenn die nötige Tagesdosis an Frömmigkeit verabreicht war, rauschte der Reverend mit wehendem Talar durch den Großen Kreuzgang zur Schule hinüber, ein dunkler Komet mit einem Schweif schwarzer befrackter Knaben.
    Neulinge waren im eigentlichen Schulkomplex ohne Lotsen rettungslos verloren. Es gab Unmengen von Torbögen, an denen man sich den Kopf stoßen, vom Alter gebeugte Treppenstufen jedweder Höhe, auf denen man sich den Hals brechen, sowie zahllose Bildnisse toter Geistlicher, an denen man den Glauben verlieren konnte.
    Während seiner ersten Tage in Westminster hörte David fast ununterbrochen die Gesänge des übenden Chores. Die mal zu hohen, dann wieder zu tiefen Stimmen schwebten wie ein zarter Nebel durch sämtliche Gänge und erfüllten das Schulhaus mit einer ganz seltsamen Atmosphäre, fast so, als würde es jeden Moment gen Himmel entrückt. Später verlor David dann das Gehör für diesen allgegenwärtigen Klang. Nur in seltenen Momenten erlangte er es wieder, wenn er die ernsten Gesichter der Chorknaben hinter den bunten Glasfenstern geisterhaft erleuchtet sah.
    Als Sohn eines Ersten Botschaftssekretärs hätte David in Westminster überhaupt nicht weiter auffallen dürfen, andere Schüler dort hatten viel bedeutendere Väter. Als er jedoch am ersten Schultag zum Morgengebet vor der Westminster Abbey auftauchte, geschah exakt das Gegenteil. Alle Knaben – sowohl die älteren als auch ihre »Sklaven«, die fags – liefen zusammen, um den weißhaarigen Jungen zu beäugen. Seltsamerweise traute sich aber keiner David nach der Ursache für seine nicht eben alltägliche Haarfarbe zu fragen. Reverend Dr. Costley-White, der diese für David so prekäre Situation mit umsichtiger Vorausschau hätte vermeiden können, war noch nicht erschienen. Also kam es, wie es kommen musste.
    Ein Riese von einem Jungen baute sich vor David auf, schnippte ein Sixpencestück in die Luft, fing es lässig wieder auf und fragte provozierend: »Was bist du denn für ein Lurch?«
    David war nicht viel kleiner als der Frager, der irgendwann in der letzten Woche überraschend seinem zu engen und deutlich zu kurzen Frack entwachsen sein musste, doch wirkte er mit seinen dünnen Gliedern ungleich zerbrechlicher. Der Große hatte aschblonde Haare und einen Blick, der eher gekränkt als aggressiv wirkte. David überlegte, was er dem anderen getan haben mochte und was dieser mit seiner rätselhaften Frage zu erfahren suchte. In der Zwischenzeit ließ der Große erneut sein Geldstück durch die Luft flirren. Das half David aber auch nicht bei der Findung einer sinnvollen Antwort. Also zuckte er nur mit den Schultern.
    »Hab mal gelesen, dass in ganz dunklen Höhlen Lurche ohne Farbe leben. Bist wohl auch in so einem Loch aufgewachsen, was?«
    Jetzt war der Penny gefallen. Der Große wollte Ärger machen. »Ah, du kannst lesen!«, antwortete David mit gespieltem Erstaunen.
    »Du klappriges Gestell hast dir wohl lange keinen Satz heiße Ohren mehr eingefangen?«, erkundigte sich der Große.
    »Nein, das habe ich wirklich nicht.«
    Der Große wollte einmal mehr seine Lässigkeit zur Schau stellen und das Sixpencestück in die Luft schnippen, doch noch ehe die Münze seine Finger ganz verlassen hatte, rauschte schon Davids Hand wie ein Falke herbei und schnappte sich das gute Stück.
    »Wie hast du das gemacht?«, entfuhr es dem erstaunten Großen.
    »Reaktion«, antwortete David mit einem Schulterzucken.
    »Blödsinn, so schnell kann kein Mensch reagieren.«
    »Du vielleicht nicht – scheinst ein bisschen langsam zu sein –, aber ich schon.«
    Damit hatte David unbewusst einen empfindlichen Nerv bei dem Großen getroffen, der im Übrigen Nicolas hieß. Nicolas Jeremiah Seymour hatte schon zwei Ehrenrunden hinter sich, wodurch sich sein Vater, ein angesehener Lord des Oberhauses, genötigt sah, all seinen Einfluss sowie eine Extraration Schulgeld in die Waagschale zu werfen, um dem begriffsstutzigen Spross doch noch den Weg zum School Certificate zu ebnen,

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