Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
wurde schon früh darauf eingeschworen. Sorgfältig ausgearbeitete Erziehungspläne gaben den Lehrbeauftragten hierbei die nötige Orientierung. David erwartete von einer kirchlichen Anstalt wie der Westminster School in dieser Hinsicht fromme Zurückhaltung. Er sollte enttäuscht werden.
Der in Westminster für die regelmäßigen Wehrübungen zuständige Lehrer war ein gewisser Bucklemaker, ein rothaariger Bullterrier mit einer Stimme wie ein Fregattenhorn. Dem Talar nach gehörte er zur Kaste der Geistlichen, aber das konnte nach Ansicht der Jungen nur ein Täuschungsmanöver zur Verwirrung des Feindes sein. Vater Bucklemaker war der geborene Spieß. Er hasste Faulenzer und Drückeberger. Wenn er bei seinen Rekruten irgendwelche Symptome dieser Art entdeckte, dann trieb er sie mit exorzistischem Eifer aus. Vater Bucklemaker war eine für diese Aufgabe in jeder Hinsicht gelungene Besetzung.
Jede Woche lagen die Jungen mindestens einmal in den feuchten Farnen von Richmond Park und lieferten sich Gefechte mit imaginären Karabinern und Maschinengewehren. David war gleich zu Beginn bei den Nahkampfübungen unangenehm aufgefallen, weil er mit unangemessener Leichtigkeit beinahe ein Dutzend Feinde besiegt hatte. Diese zur Schau gestellte Überlegenheit grenzte an Wehrkraftzersetzung. Normalerweise stand darauf die Todesstrafe. Der Geistliche befand sich in einer Zwickmühle. Was sollte er tun? Die Kompanie murrte. Meuterei lag in der Luft. David war ein tüchtiger Soldat, aber eben etwas zu tüchtig. In diesem Augenblick bewies Vater Bucklemaker, dass er doch zumindest rudimentäre Bibelkenntnisse besaß, denn er fällte ein »salomonisches Urteil« und beförderte David zu seinem Adjutanten.
Fortan durfte David seinem Kompaniefeldwebel als strategischer Berater zur Seite stehen, musste gelegentlich als Botengänger fungieren, manchmal – wenn an der Frontlinie ein Patt entstanden war und das Ende der Schulstunde nahte – auch als Parlamentär. Sein erweiterter Verantwortungsbereich kam ihm sehr entgegen. Ein Kampf auf Leben und Tod – für die meisten Jungen an Westminster war das eine erstrebenswerte Erfahrung, für David nur eine dunkle Erinnerung.
Aus dem seltsamen Zusammenspiel zwischen religiöser und militärischer Erziehung ergab sich für ihn bald ein rätselhaftes Paradoxon. Tagelang diskutierte er darüber mit Nick, versuchte es sogar mit Balu, erhielt aber hier wie da auf seine Fragen keine befriedigenden Antworten. Hieß es nicht im zweitgrößten Gebot, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst? Wie konnte jemand die göttliche Order befolgen und gleichzeitig seinen Mitmenschen, vielleicht sogar seinen Glaubensbruder, massakrieren?
Davids ganzes Wesen atmete Wahrheit. Nachdem diese ihm ins Blut gegangen war, hauchte er sie wieder aus und machte sie damit anderen auf seine einzigartige Weise zugänglich. Wenn er Betrug nur witterte, drohte er schier zu ersticken. Dieser besonderen Natur seiner Seele entsprang fast zwanghaft der Wunsch, die großen Rätsel seines Lebens zu lösen. Hierzu nahm er sich nun ebenjenes Lehrbuch vor, das in den Ländern, die den Großen Krieg vom Zaun gebrochen hatten, wie kein anderes verbreitet war: die Bibel. Jeden Tag studierte er neben dem üblichen Schulstoff mehrere Seiten der Heiligen Schrift. Und wurde immer verwirrter.
Im Mai 1915 – David las gerade mit glühenden Ohren die Liebeshymne des Hohelieds – hatte Reverend Dr. Costley-White eine besondere Pflicht zu erfüllen. Irgendein unermüdlicher Beamter musste entdeckt haben, dass Soldaten, die in die Fremde zogen, bei ihrer Rückkehr oftmals nicht nur unanständige Krankheiten, sondern auch ebensolche Ansichten einschleppten. Da Angriff bekanntermaßen die beste Verteidigung ist, hatte die Schulbehörde daraufhin beschlossen ein schweres Geschütz gegen die sittliche Verwahrlosung aufzufahren: die Sexualerziehung.
Davids ganze Klasse war auf zehn Uhr in das Büro von Reverend Dr. Costley-White bestellt worden. Das nun folgende Lehrprogramm zum Schutze der Jugend hatten einige andere Klassenverbände bereits erfolgreich absolviert, weswegen aufseiten der Schülerschaft nicht gerade Ahnungslosigkeit herrschte. Der Reverend ließ seinen strengen Blick über die pubertierenden Frackträger schweifen und vergewisserte sich noch einmal, ob die Tür seines Arbeitszimmers auch wirklich fest verschlossen war. Der Erwartungsdruck im Raum war groß und fand immer wieder ein Ventil im leisen Gekicher der
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