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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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einen Lumpen, den er unterwegs gefunden hatte. Balu stand bei der Treppe am anderen Ende des Tunnelgewölbes.
    »So, jetzt versuche die Kerze auszuschießen«, rief David.
    »Sahib Camden müssen weiter weggehen«, verlangte Balu.
    »Bist du etwa ein so schlechter Schütze?«
    »Balu war bester Schütze von ganzer Division!«
    »Dann kann ich auch hier stehen bleiben.«
    Der Inder grummelte einige unverständliche Worte.
    »Jetzt mach schon, Balu! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
    »Sahib Camden soll bitte ruhig sein!«, verlangte der Leibwächter mit Nachdruck.
    David schwieg und verlegte sich aufs Beobachten. Der kleine Mann rührte sich nicht. Also meditierte er. David hatte gehört, dass die damit einhergehende Versenkung im eigenen Ich eine ziemlich langwierige Angelegenheit sein konnte. Aber er wagte nicht, Balu erneut anzutreiben. Schon stellten sich bei ihm Zweifel an der Effizienz eines Leibwächters ein, der im Ernstfall aus einem Zustand schmerzloser Entrücktheit heraus operieren musste, als sich Balu Dreibein plötzlich wieder bewegte.
    Mit einem Mal ging alles ganz schnell. David fand kaum noch Gelegenheit sich selbst zu konzentrieren. Balu legte mit ausgestrecktem Arm auf das Ziel an, umfasste zur Unterstützung die Waffenhand mit der freien und feuerte den Revolver dreimal kurz hintereinander ab.
    Was dann geschah, entzog sich dem Verständnisvermögen des Inders. Die Kerze wurde nicht, wie von ihm erwartet, dreifach geköpft. Stattdessen kam der junge Viscount auf ihn zugelaufen, seine Augen starr auf die unsichtbare Linie zwischen Pistolenlauf und Wachslicht gerichtet und tat so, als würde er mithilfe des Lappens drei Kirschen aus der Luft pflücken.
    Als David seinen Leibwächter erreicht hatte, hielt er in seiner Rechten den ausgebreiteten Lumpen. Darin lagen die drei unversehrten Kugeln aus Balus Revolver. Als sich der Inder vom ordnungsgemäßen Zustand der Projektile überzeugt hatte, drohten ihm die Augen aus den Höhlen zu quellen. Gleich darauf fiel er vor David auf die Knie und begann mit einer Art Singsang, der sich wie Sanskrit anhörte.
    »Was soll das?«, empörte sich David. Balus Reaktion mochte zwar plausibel sein – David wusste, dass kein noch so gescheiter Hindu bei Zigmillionen Göttern den Überblick behalten konnte –, aber er war sich doch ziemlich sicher, selbst nicht zu dieser erlesenen Gesellschaft überirdischer Wesen zu gehören. »Steh sofort wieder auf, ich bin genauso ein Mensch wie du.«
    »Aber… d-da!«, stammelte Balu und zeigte unentwegt auf das Tuch mit den Kugeln.
    »Nur ein Trick, Balu. Ich wollte dir zeigen, dass ich keine Angst vor Feuerwaffen haben muss. Hier, sieh selbst!« Mit diesen Worten warf er die Kugeln in ein Abflussloch am Boden. Einen Herzschlag später ertönte ein Zischen und Pfeifen wie von Querschlägern, die sich zwischen zwei Mauern verirrt hatten. David lächelte. »Daneben!«
    Balus Augen wanderten zwischen dem viereckigen Bodenloch und Davids entspanntem Gesicht hin und her. Da war etwas geschehen, das er wohl gesehen hatte, aber trotzdem nicht begriff. Woher hätte er auch wissen sollen, dass der Verzögerer für die Revolverkugeln die Zeit so gut wie angehalten hatte, um sie seelenruhig aus ihrer Bahn zu nehmen. Erst im Abflussloch ließ Davids Geist die den dahinschießenden Projektilen innewohnende Zeit wieder frei, worauf diese wie eine plötzlich losgelassene Spiralfeder ihre Energie entluden.
    David klopfte Balu auf die Schulter, um ihn aus seiner Starre zu erlösen. »Was ist jetzt: Wirst du außerhalb der Schule auf mich warten?«
    Balu Dreibein nickte viele Male, bevor er antwortete: »Ja, Sahib.«
     
     
    Im Schatten von Big Ben lernte David bald darauf die englische Variante gesellschaftlich angepassten Verhaltens kennen. Sie war etwas weniger steif als das japanische Sittenkorsett, hatte allerdings auch nicht die Nonchalance der Wiener Lebensart.
    Westminster war eine noble Schule. In ihrer Obhut gedieh eine nicht unerhebliche Zahl von Sprösslingen angesehener Parlamentsabgeordneter. Von daher muss es nicht verwundern, wenn auch ein Teil des Unterrichts der Entwicklung britischer Debattierkunst gewidmet war. Wie ihre Väter gleich nebenan erhitzten sich die Söhne im Staatskundeunterricht über die Aufstockung des Rüstungsetats, die Ausgabe neuer Kriegsanleihen oder das Frauenwahlrecht. Wenn jemand etwas Staatstragendes sagte, riefen seine Anhänger: »Hört, hört«, während die Opponenten ihre stimmbrüchigen

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