Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Knaben.
Nach Abschluss der Sicherheitsüberprüfung verbarrikadierte sich Reverend Dr. Costley-White hinter seinem Schreibtisch, zeigte sein Standardlächeln und räusperte sich. Sodann gab er folgende kurze Erklärung ab: »Wenn ihr ihn anfasst, fällt er ab.«
Daraufhin durften die Jungen wieder ins Klassenzimmer zurück. Endlich waren sie für das Erwachsenenleben gewappnet.
Später an diesem Tage spazierten David und Nick über Dean’s Court – Balu in diskretem Abstand hinter ihnen – und erörterten die Feinheiten von Dr. Costley-Whites sittenstärkendem Lehrprogramm. Aufgrund langjähriger Erfahrungen in der gegenwärtigen Klasse konnte Nicolas von einem ähnlich denkwürdigen Versuch berichten, der sich im Jahre 1913 zugetragen hatte. Damals plagte sich noch der Vorgänger des jetzigen Rektors mit diesem faszinierenden, wenn auch schwer fassbaren Thema herum. Er musste wohl den Wunsch verspürt haben, es seinen Jungen näher zu bringen, tat sich damit mangels behördlicher Richtlinien aber ungleich schwerer. Zuletzt fand er doch einen für ihn gangbaren Weg und ließ auf eigene Kosten ein Merkblatt drucken, das jeder Knabe zu Beginn des Schuljahres auf seinem Pult vorfand. Die acht einleitenden Worte des Traktats lauteten: »Möglicherweise habt ihr bemerkt, dass zwischen euren Beinen…«
David tat sich schwer mit der Prüderie der Londoner Gesellschaft. Er war schließlich in Japan aufgewachsen. Davon berichtete er auch seinem aufmerksam zuhörenden Freund. Unzählige Male hatte er mit Yoshi eines der vielen Badehäuser besucht. Dort in jener langen und züchtigen Badekleidung aufzutreten, wie sie die Europäer bevorzugten, hätte mit Gewissheit betretenes Schweigen ausgelöst. In den großen, dampfend heißen Wasserbecken war jeder nackt. Zwar hatte man in Japan mit Rücksicht auf die Gefühle ausländischer Mitmenschen nach Geschlechtern getrennte Einstiege zu den Bassins geschaffen, aber am Schluss saßen alle wieder im selben Wasser. Na gut, es gab auch Trennvorhänge, aber die waren ja nicht umsonst sehr beweglich und im Falle amtlicher Kontrollen schnell in die vorschriftsmäßige Position zu ziehen. Auf diese Weise hatte David schon sehr früh ein ziemlich vollständiges Bild von der Anatomie des Menschen gewonnen. Aber dank der Vielzahl der Themen, die aus dem undurchdringlichen Wasserdampf aufstiegen, auch von dessen Psyche. Tatsächlich waren die japanischen Badehäuser hauptsächlich Stätten des Gedankenaustauschs und nicht etwa, wie man irrtümlicherweise meinen könnte, des Kampfes gegen den Schmutz.
Die kulturell so unterschiedlichen Elemente des Fernen Ostens und Europas verschmolzen in David zu einem sehr toleranten Charakter. Engstirnigkeit war ihm fremd, ja sogar suspekt. Er hatte schon so viele Blickwinkel auf das Leben kennen gelernt, dass er für neue Betrachtungsweisen immer offen war. Angeregt durch sein Bibelstudium gelangte er zu einem ganz einfachen Schluss: Wenn Gottes Augen jeden Menschen auf dem weiten Erdenrund sehen können, dann kann er nicht einseitig sein.
Diese Einsichten versuchte er auch Nick zu vermitteln, allerdings mit eher bescheidenem Erfolg. Nicolas war nicht gerade ein Philosoph, sondern mehr ein Pragmatiker. Wenn sich ein Problem unter anderem mit handfesten Mitteln aus der Welt schaffen ließ, dann bevorzugte er diese Möglichkeit. Vermutlich war das auch der Grund, weshalb er ständig eine Münze in der Hand hielt, sie kurz hochschnippte und wieder auffing, ihr erneut die Freiheit gab, um sie gleich wieder einzusperren. Immerhin entdeckte David bei seinen feurigen Plädoyers für Toleranz und Gerechtigkeit an sich selbst etwas, das ihm zuvor so noch nicht aufgefallen war: eine starke Neigung anderen Menschen jene übergeordnete Sichtweise zu vermitteln, die er als »göttliche Perspektive« bezeichnete.
Während der Mai seine sprichwörtlichen Wonnen über David in Form neuer Einsichten über die Sexualität ausschüttete, verlor das übrige London seine Jungfräulichkeit in einem gänzlich anderen Sinne. Genau genommen war der schönste Monat des Jahres ja auch schon fast vorüber. In der Nacht zum 1. Juni schlich sich ein deutscher Zeppelin in den Himmel über London und warf einige Bomben ab. Der materielle Schaden infolge dieses hinterhältigen Überfalls hielt sich zwar in Grenzen, nicht aber der Schrecken unter der Bevölkerung. Mit einem Mal war die Hauptstadt des britischen Empire selbst zur Zielscheibe des Feindes geworden. Andere englische
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