Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Städte hatte es schon viel früher getroffen. Seit Dezember 1914 waren immer wieder einige Orte von deutschen Flugzeugen oder Zeppelinen angegriffen worden. Aber das! Viele spielten das Ereignis herunter, doch andere lebten von nun an in Angst – die Front war zu ihnen nach Hause gekommen.
Davids Persönlichkeit hatte mittlerweile ein Wechselbad unterschiedlichster Einflüsse durchlaufen: sein multikultureller Hintergrund; das viktorianisch verbrämte, imperialistisch gefärbte Gedankengut seiner Zeit; sein eigenes neues Mitteilungsbedürfnis; Vaters zermürbendes Schweigen und Nicks Begriffsstutzigkeit. Aus diesem Gemisch bildete sich bis Anfang 1916 eine dicke, gärende, blubbernde, fruchtbare Humusschicht, die zwangsläufig etwas hervorbringen musste. Davids ganzer Züchterstolz konzentrierte sich auf das erste zarte Pflänzchen seiner neuen Bestimmung: einen Zeitungsartikel.
Darin lag seine Berufung. Nur mit der spitzen Feder eines Zeitungsreporters konnte er die Wahrheit ans Licht zerren und sie schonungslos der Öffentlichkeit präsentieren. Man hörte auf ihn, wenn er die Wahrheit sprach, also würde man ihn auch lesen, sobald er sie zu Papier brachte.
Sein Aufsatz behandelte in pointiert-elegantem Stil die »Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Patriotismus in Japan und dem Vereinigten Königreich«. So lautete auch der etwas sperrige Titel, der durchaus im Trend der Zeit lag. Natürlich schöpfte David bei seinen Schilderungen aus dem reichen Fundus persönlicher Erfahrungen. Er beschrieb, wann man es in Japan für sinnvoll hielt, sich den Bauch aufzuschlitzen, wodurch man dem Tenno die größte Freude bereiten konnte und was den bushido zu einem so außergewöhnlichen Weg machte. Dabei sparte David auch mit Hintergründigem nicht, bediente sich hierzu aber eines ironischen Tons, der es erforderlich machte, zwischen den Zeilen zu lesen, um die ganze Wahrheit zu sehen. Da stand dann: »Wie es bei uns die größte Ehre ist, sein Leben für König und Vaterland hinzugeben, bereitet es dem japanischen Patrioten höchste Verzückung, sich auf dem Schlachtfeld für den Tenno zu opfern. Und da er seine Freudentränen nicht mehr zeigen kann, nehmen ihm dies die Hinterbliebenen ab.«
Am liebsten hätte David sein fertiges Manuskript ja selbst in die Fleet Street getragen und es dort, wie Luther seine Thesen, an die Tür eines der großen Zeitungshäuser genagelt, aber dann kam er zu dem durchaus nicht abwegigen Schluss, man könne ihm dies als Schwäche auslegen, gar die Qualität seines Werkes anzweifeln oder ihn wegen Hausiererei verhaften. Also schickte er den Text mit der Royal Mail an den Evening Standard.
Auch diese Entscheidung hatte sich David nicht leicht gemacht. Ihr waren Tage des Zweifels vorausgegangen. Einige Zeit fühlte er sich versucht sein Werk einfach an Alfred C. W. Harmsworth Northcliffe zu schicken, der mit seinem Bruder Harold die angesehene Londoner Times herausbrachte. Alfred war ein fast so guter Freund der Familie wie der Hausanwalt William H. Rifkind. Wenn Geoffreys Sohn ihm schüchtern einen Zeitungsartikel zuschöbe, dann würde er ihn gewiss schon irgendwo in seinem Blatt unterbringen. Aber gerade das wollte David nicht. Er befürchtete, es könne später einmal seiner Glaubwürdigkeit als Journalist schaden. Wer sich selbst der Begünstigung bediente, konnte schlecht feurige Attacken gegen Vetternwirtschaft und Korruption verfassen.
Um jegliche Bevorzugung auszuschließen, setzte David den Namen Seikinoko Saikaku unter seinen Essay. Dieses Silbenbild musste auf jeden Engländer ungemein japanisch wirken. Als Absender gab er die Westminster School an. Nun hatte er nur noch ein Problem: Er musste Reverend Dr. Costley-White beibringen, dass er noch einen asiatischen Namen besaß.
David versuchte es mit der Wahrheit und – er war ehrlich erstaunt – der Reverend zeigte Verständnis. Dr. Costley-White war sogar ein wenig stolz »einen Schriftsteller« unter seinen Schülern zu wissen. »Nur einen Journalisten«, verbesserte David höflich.
»Ihre Bescheidenheit ehrt Sie, Viscount«, sagte der Reverend und fügte wehmütig hinzu: »Wenn ich noch daran denke, wie ich Ihr Gesäß mit der Rute bearbeiten musste, um Ihnen die Tugend der Mäßigung nahe zu bringen! Ich bin mit Ihrer Entwicklung sehr zufrieden.«
»Vielen Dank, Reverend Dr. Costley-White.«
»Schon gut. Machen Sie weiter so, Viscount. Die Wahrheit zu schützen ist eine edle Lebensregel. Wie heißt es doch so schön:
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