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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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verschlossen.
    Wenig später traf auch Nicolas am Ort des Geschehens ein. »Was ist denn in dich gefahren?«, erkundigte er sich.
    Davids Blick ruhte noch immer auf dem leeren Gang. »Hier war eben jemand.«
    »Gelegentlich soll das in Gotteshäusern immer noch vorkommen.«
    »Nicht das, was du meinst«, sagte David verärgert. »Irgendwer hat mich durch die Fenster beobachtet. Als ich nach ihm rief, antwortete er nicht. Dann hat er sich hier den Gang entlanggeschlichen, eine große dunkle Gestalt. Puh, mir war richtig unheimlich zu Mute.«
    »Und wo ist er jetzt?«
    David zuckte die Achseln.
    »Du willst mich verkohlen, stimmt’s?«
    »Ich dachte erst, du wärst’s gewesen.«
    »Hätte zwar gepasst, war ich aber nicht.«
    »Warum bist du überhaupt schon so früh auf den Beinen?«
    »Hatte gestern Abend ziemlichen Ärger mit meinem alten Herrn. Er will mich auf eine Militärakademie schicken, wo man mein ›verstocktes Hirn weich klopft‹.«
    »Das hat er gesagt?«
    »Wortwörtlich. Eher laufe ich von zu Hause weg.«
    »Mach keinen Unsinn, Nick.«
    »Hast wohl vergessen, dass ich zwei Jahre älter bin als du. Ich kann schon ganz gut allein auf mich Acht geben«, antwortete Nicolas, heftiger als beabsichtigt.
    »War ja nur gut gemeint, Nick.« David spürte, wie aufgewühlt sein Freund war. Warum mussten Väter nur immer ihren Söhnen wehtun, anstatt ihre Freunde zu sein? Nachdenklich schweifte sein Blick wieder durch den leeren Gang. Mit einem Mal sagte er: »Vielleicht steckt er noch im Kapitelhaus.«
    Nick konnte Davids Gedankensprung nur langsam nachvollziehen. Er folgte dem Blick seines Freundes und antwortete nach einigem Zögern: »Warum sehen wir nicht einfach nach?«
    Mit wenigen Schritten überbrückte er die Distanz zur Tür, von der aus man ins Chapter House gelangte. Er rüttelte am Griff. Sie war verschlossen. Seine Hand wanderte in die Hosentasche, holte ein Sixpencestück hervor und schnippte es in die Luft. Nachdem er es wieder aufgefangen hatte, verkündete er: »Tja, dann muss dein dunkler Unbekannter sich wohl in Luft aufgelöst haben.«
    »Vielleicht war es der Dekan, der einer Beichte entkommen wollte.«
    »Klingt nicht sehr überzeugend. Das Kapitelhaus ist das einzige Gebäude der Abtei, in dem er keine Befugnisse hat. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er dazu einen Schlüssel besitzt.«
    David drehte sich enttäuscht von der Tür weg und starrte blicklos durch das Eisengitter des nächstliegenden Fensters. Der Regen prasselte im Innenhof mit unverminderter Stärke. Dort, wo er auf Stein traf, formte er für Bruchteile eines Augenblicks gläserne Krönchen, winzige filigrane Gebilde, die ebenso vergänglich waren wie die rätselhafte Erscheinung von eben.
    Drei Tage nach Davids unheimlicher Begegnung im Kreuzgang der Abtei flatterte den Camdens ein offizielles Einladungsschreiben ins Haus. Es trug kein geringeres als das Siegel Seiner Majestät König Georges V. Der Monarch freue sich, auf Windsor Castle einen Empfang für jene Mitglieder des Foreign Office geben zu dürfen, die der Krone mindestens zehn oder mehr Jahre fern der Heimat treu gedient hätten. Selbstredend gehörten der Earl of Camden, seine bezaubernde Gemahlin, deren Sohn und der verdiente Oheim des Earls zu genau den Gästen, auf die sich der König ganz besonders freue. Behauptete das Schreiben. Geoffrey warf es in den Kamin.
    An diesem Montagmorgen war in Camden Hall einiges schief gelaufen. Donald, der für die Beheizung des Anwesens zuständige Diener, lag mit hohem Fieber im Bett. Großonkel Francis hatte nächtens unter den Weinflaschen im Keller ein Gemetzel angerichtet. In einer Nachstellung von Sir Francis Drakes Überfall auf Saint Augustine (und unter Einfluss von zwei Flaschen Wein) war es ihm gelungen, die spanische Siedlung zu erobern. Dabei fiel ihm ein ganzes Flaschenregal zum Opfer, weil er es für eine feindliche Bastion gehalten hatte. Die Aufräumarbeiten an diesem Kampfschauplatz zogen dringend benötigte Kräfte aus anderen Regionen des Hauses ab. Dadurch hatte man Geoffreys Kamin vergessen.
    Hier fand Maggy gegen halb neun das zerknüllte Einladungsschreiben. Sie hatte seit der Rückkehr nach London keinen größeren Empfang mehr besucht – unmöglich, bei Geoffreys krankhafter Niedergeschlagenheit. Gewünscht hätte sie’s sich schon, so ein wenig Ablenkung: schöne Kleider ohne schlechtes Gewissen, erlesene Speisen ohne amtliche Sparaufrufe, etwas unbeschwerte Plauderei ohne Durchhalteparolen. Doch

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