Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
unheimlich. So früh am Morgen verirrte sich nur selten jemand hierher, und wenn, dann höchstens Geistliche. Manchmal hatte David ihnen aus einem schattigen Winkel zugesehen, wie sie geisterhaft durch die Kirche schwebten, als wären sie…
Ein dröhnender Laut ließ David erschrocken zusammenfahren, just an der Ecke, wo er nach Norden abbiegen wollte. Die Glocken von Westminster Abbey waren noch nicht zu Kanonen verarbeitet worden. Sie verkündeten die siebte Stunde und David redete beruhigend auf sein pochendes Herz ein. Als der letzte Glockenschlag verklungen war, legte sich wieder der Schleier der Stille auf die Great Cloisters.
Dennoch konnte David nicht aufatmen. Die Ketten des Schreckens umspannten noch immer seine Brust. Ein Frösteln schüttelte einmal mehr seinen Körper, obwohl der beißende Februarwind hier keine Macht besaß. Es war eine Klammheit, die von innen kam. All das verwirrte ihn. Warum fühlte er sich plötzlich so… so… beobachtet?
Die Angst bildete ein dünnes Rinnsal, das ihm kalt den Rücken hinunterlief wie ein verirrter Tropfen vom Regenschirm. Sein Hals war unangenehm steif, wollte den Kopf kaum drehen. Also bewegten sich nur Davids Augen, während er, reglos wie eine Statue, nach dem Grund seines Unbehagens forschte.
Auf den graugrünen Platz im Herzen des Kreuzgangs gingen dicke Regentropfen nieder. Das gleichmäßige Prasseln schwoll in Davids Ohren zu einem betäubenden Trommelfeuer an. Sollte hier irgendjemand herumschleichen und ihn durch das Maßwerk der Bogenfenster beobachten, so würde er ihn bestimmt nicht hören können. Aus dem Magazin seiner Sinne ließen sich im Moment nur zwei nutzbringend einsetzen: sein Sehvermögen und die Gabe der Sekundenprophetie.
Mit einem Mal bemerkte er die Bewegung. Sein Blick war wie von einem Magneten zu jenem Fenster an der nordöstlichen Ecke des Platzes hingezogen worden, noch ehe dort etwas zu erkennen war. Doch dann, langsam, als höben die Hände einer Nixe ihn aus düsteren Fluten empor, hatte der Schemen Gestalt angenommen.
Ein neuerlicher Schauer lief David über den Rücken. Ein fahles Gesicht – eigentlich nicht mehr als die Ahnung eines solchen – blickte zu ihm herüber. Wer versteckte sich dort? Vielleicht Nick, von Schlaflosigkeit aus dem Bett getrieben und dem ewigen Drang folgend ihm einen Streich zu spielen? David lauschte, ob er das Schnippen hörte, mit dem Nick seine Münze durch die Luft fliegen ließ und wieder auffing. Nein, das war nicht Nicolas. Dann vielleicht ein Geistlicher auf der Suche nach absonderlicher Zerstreuung? David glaubte inzwischen alle Geistlichen der Abtei zumindest vom Sehen her zu kennen, aber so groß wie dieser Schemen dort war keiner von ihnen.
»Wer ist da?«, rief er mit allem Mut, den er zusammenkratzen konnte.
Die dunkle Gestalt antwortete nicht. Stattdessen begann sie sich zu bewegen. Sie verschwand hinter einem Fenster und tauchte im nächsten wieder auf, verließ dieses und erschien im folgenden. Langsam, als treibe sie auf einer Eisscholle, ging sie, ohne auch nur im Geringsten mit dem Kopf zu wippen, auf die Pforte zu, durch die David hereingekommen war.
Der Junge rollte den nassen Schirm zusammen und nahm ihn wie ein katana. in beide Hände. Noch zwei Fenster und der Schemen würde am andere Ende des Ganges auftauchen. Davids Knöchel traten am Griff seines provisorischen Langschwertes weiß hervor. Noch ein Fenster. Ein bedrohliches Knurren entwich der Kehle des Knaben. »Warte nur, Bürschchen!«
In diesem Moment wurde das Nebenportal der Abtei aufgerissen, Davids Kopf flog nach links und Nick rief: »Morgen, David. Warst mal wieder der Erste, was?«
Davids Antwort war ein undefinierbares Grunzen. Seine Augen kehrten unverzüglich zu jenem Punkt am anderen Ende des südlichen Querganges zurück, an dem normalerweise längst die dunkle Gestalt hätte stehen müssen, aber von dort blickten ihn nur kalte Steine an.
Während Nicolas, verwundert über die merkwürdige Reaktion seines Freundes, in den Kreuzgang eilte, lief David wie auf der Flucht zur Südostpforte hin. Die ganze Zeit behielt er die gegenüberliegende Fensterkette im Auge, aber dort war nicht die geringste Bewegung zu sehen. Schlitternd kam er endlich am anderen Ende des Ganges zum Stillstand, sein »Schwert« nach links, einem möglichen Angreifer zugewandt, aber nichts außer einem leeren Gang war zu sehen. Die Tür am anderen Ende – dort, wo es zur Poet’s Corner ging – schien fest
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