Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
›Des Menschen höchstes Gut ist der Wahrheit heiße Glut.‹«
David runzelte die Stirn. »Cromwell?«
Ein Anflug von Verlegenheit huschte über das Gesicht des Rektors. »Nein, nur Costley-White.«
In Ermangelung ausreichender Schlagkraft mussten die Techniker in den verfeindeten Lagern immer neue Waffen konzipieren, um ihrem Land einen Vorteil zu verschaffen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Große Krieg zu einem Prüfstand neuester Erfindungen. Der Feind wurde aus Flugzeugen von oben und aus U-Booten von unten mit Bomben beschickt. Kanonen und Maschinengewehre erreichten eine nie da gewesene Perfektion. Der massive Einsatz von Giftgas führte zu einer bisher unbekannten Grausamkeit. Seit diesen Tagen geht immer wieder das Gerücht um, einzelne Kriege würden nur deshalb geführt, weil man die neuesten Waffen im praktischen Einsatz erproben wolle.
Nachdem Großbritannien die Nordsee zum Kriegsgebiet erklärt hatte, entdeckten die verfeindeten Admiräle hier ein neues weites Betätigungsfeld. Um der größten Seemacht die Stirn zu bieten, griff die Marine Kaiser Wilhelms II. »unsichtbar« an. Im Januar 1915 versenkte das deutsche Unterseeboot U 24 vor Plymouth das britische Linienschiff Formidable, im Mai den Passagierdampfer Lusitania. Ein Aufschrei der Empörung ging um die Welt. Fatalerweise hatte die Lusitania auch Munition und anderes Kriegsmaterial geladen und die Frage tauchte auf, wer nun unmoralischer gehandelt habe: die deutschen Angreifer oder die Briten, welche arglose Passagiere als Schutzschild für ihre militärischen Operationen verwendet hatten. Aber zwölfhundert tote Zivilisten, darunter auch einhundertachtundzwanzig amerikanische Bürger! Empört forderte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt Krieg gegen die U-Boot-Killer. Der deutsche Kaiser sah sich genötigt seiner Admiralität persönlich auf die Finger zu klopfen, weil er die neutralen Vereinigten Staaten von Amerika besänftigen wollte. Er wird es wohl nicht allzu heftig getan haben. Eine Zeit lang hielten sich seine Kapitänleutnants zwar von zivilen Schiffen fern, aber Kriege sind per se immer auch Zeiten von Grenzverletzungen – und wenn es nur moralische sind. Die deutsche »U-Boot-Waffe« war ein zu kostbares Tabu, irgendwann musste es einfach gebrochen werden.
Am 22. Februar 1916 erschien der erste Teil des Artikels eines gewissen Seikinoko Saikaku auf Seite elf im Evening Standard. Vielleicht lasen ihn nur wenige, weil die Schlagzeile vom Auftakt einer deutschen Großoffensive auf die französischen Festungsanlagen um Verdun erheblich spektakulärer war. Tausende britische Haushalte hatten ihre Söhne dorthin entsandt. Was würden die neuen deutschen Maschinengewehre aus ihnen machen?
David freute sich trotzdem über sein journalistisches Debüt. Es war der krönende Abschluss eines langen Bangen und Zitterns. Neun Tage nach Einsendung seines Artikels hatte er einen Brief vom Evening Standard erhalten. Darin hieß es, man sei von dem Essay sehr angetan. Er enthalte zahlreiche interessante Gesichtspunkte über den tapferen Kriegsverbündeten Japan und gewähre »viel versprechende Ausblicke auf die zukünftige stilistische Entwicklung eines sehr talentierten Autors«. David deutete diese Passage als versteckte Kritik, vielleicht auch als Versuch den Preis herunterzuhandeln. Ob es Mr Saikaku genehm sei, wenn er für seinen Artikel vier Schilling und Sixpence erhalte, wollte die Zeitung wissen.
Der Brief erwies sich für David als schwere Prüfung. Selbstzweifel quälten ihn. Sollte er sich besser doch einen anderen Beruf suchen? Sein Zögern wurde vom Evening Standard offenbar als Ausdruck der Kränkung verstanden, denn nach acht Tagen ging ein weiterer Brief ein: Man habe sich die Sache überlegt und weil der Essay ja schließlich so umfangreich sei, dass man ihn ohnehin in zwei Teilen veröffentlichen müsse, wolle man dem jungen Autor – auch zu dessen Ermutigung – sechs Schillinge zugestehen.
Schon im Arbeitszimmer von Reverend Dr. Costley-White, der Relaisstation zwischen dem Autor und der Zeitung, machte David die ersten Luftsprünge. Der Rektor bot ihm zur Feier des Tages ein Schokoladeneclair an. Nicolas erfuhr die gute Nachricht als Nächster. Dann musste Balu sich mitfreuen. Von nun an war David ein Essayist, die Zierform eines Reporters. Nicht nur das: Er hatte sein erstes eigenes Geld verdient. Nun musste er nur noch die Zeit bis zur Veröffentlichung seines Meisterwerks
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