Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
zurückliegenden Inkarnationen habe er zum Beispiel…
David bedankte sich höflich für das gut gemeinte Angebot seines Leibwächters. Ob es Balu sehr viel ausmachen würde, den Rest der Nacht vor seinem Schlafzimmer zu verbringen?
Nein, es sei ja seine Pflicht, den Sahib zu bewachen. Obwohl der Inder es nicht direkt aussprach, war aus dem Klang seiner Stimme doch zu erkennen, wie sehr er sich über Davids Bitte freute. Endlich schien der junge Viscount die Verteilung ihrer beider Rollen begriffen zu haben.
Trotz des aufmerksamen kleinen Mannes vor der Tür lag David bis zum Morgengrauen wach. Seine innere Unruhe wurde immer größer. Er versuchte eine Zeit lang in der Bibel zu lesen, aber selbst das half nichts. In seinem Kopf gab es nur noch dieses flirrende Gefühl, als würde darin eine Million Fledermäuse nach einem Ausgang suchen. Plötzlich schrak er wieder hoch und lauschte.
Alles war still. Er sprang aus dem Bett, angelte sich den yukata vom Bettpfosten, eilte zur Tür und riss sie auf. Balu sah ihn überrascht an.
Im nächsten Moment ertönte die Glocke vom Eingang her. Der Inder wirkte nun erst recht überrascht – des Jungen Ausblicke in die unmittelbare Zukunft waren und blieben für ihn ein großes Geheimnis.
David rannte den Flur entlang, die Treppe hinab, zum Eingang hin. Vor dem Dienstboten erreichte er die Tür. Mit einem Mal zögerte er. Er fühlte wieder die Angst in sich aufsteigen, öffnete dann aber trotzdem.
»Guten Morgen. Ich bin Lieutenant Barepitch von Scotland Yard«, sagte eine sehr ernste Stimme. Sie gehörte einem hageren Mann fortgeschrittenen Alters in grauem Mantel, der beim Sprechen ständig seinen Bowler vor der Brust rotieren ließ. Er versuchte ein Lächeln, das jedoch ziemlich unglücklich ausfiel. Sein Schädel war fast kahl, wodurch sein Gesicht merkwürdig lang wirkte. Ein buschiger dunkler Schnurrbart stand in auffälligem Kontrast zur spiegelnden Stirn. An seiner Seite stand ein zweiter Mann, der etwas mehr Haare auf dem Kopf hatte, aber sonst nicht viel anders aussah als der Wortführer. Mr Barepitch fügte mit einem Blick auf seinen Kollegen hinzu: »Und dies hier ist Sergeant Abrahams. Wir würden gerne jemanden von den Herrschaften sprechen.«
David trug über dem Nachthemd nur seinen japanischen Hausmantel, der ihn im Verein mit den weißen Haaren für die Polizeibeamten wohl so exotisch aussehen ließ, dass sie in ihm irgendeinen Importartikel aus den britischen Kolonien wähnten. »Meine Eltern und mein Großonkel schlafen noch. Wenn es etwas Dringendes ist, müssen Sie wohl oder übel mit mir vorlieb nehmen«, entgegnete er selbstbewusst.
Die Polizisten wechselten einen betretenen Blick, der David ebenso wenig gefiel wie ihre beinahe schüchternen Stimmen.
»Verzeihung, Sir, dann sind Sie wohl der Viscount of Camden?«
David zog die Tür weiter auf. »Der bin ich. Wollen Sie nicht näher treten, meine Herren?«
Die Beamten nahmen das Angebot an. Mit ihren Hüten in der Hand wechselten sie im Entree abermals verlegene Blicke, bevor sich Lieutenant Barepitch räusperte. Mit dem Rücken des Zeigefingers fuhr er sich über den Schnauzer und sagte dann: »Ich fürchte, Sir, wir haben eine unangenehme Nachricht für Sie.«
David konnte nicht mehr an sich halten. Er spürte die Last auf den Schultern der beiden Männer, beinahe so, als trüge er selbst ein dornenbewehrtes Joch. »Nun sagen Sie doch endlich, was passiert ist!«, platzte er heraus. »Hat es einen Unfall gegeben? Ist meinen Eltern oder Onkel Francis etwas zugestoßen?«
Lieutenant Barepitch blickte unsicher zu Boden. Doch dann holte er tief Luft, sah wieder auf und ließ es endlich heraus: »Ich muss Ihre Vermutung leider bestätigen, Viscount. Gestern Nacht hat sich auf der Straße nach London, unweit von Windsor, ein schwerer Unfall mit einem Rolls-Royce Silver Ghost zugetragen…«
»Wir besitzen so ein Fahrzeug«, redete David aufgeregt dazwischen. »Haben meine Eltern in dem Wagen gesessen? Leben sie noch?«
»Ich bedaure, Sir. Aber das Einladungsschreiben, das wir bei einem der Opfer gefunden haben, lässt uns befürchten, dass es sich um Ihre Familie handelt.«
David starrte die beiden Polizisten entsetzt an. Er war mit einem Mal unfähig sich zu bewegen. Hinter seinem Rücken ertönte ein erstickter Schrei, vermutlich von dem Dienstmädchen, das neugierig herangeschlichen war. Auch Balu stand in der Nähe, neben ihm Arthur, der Butler. Vom Arbeitszimmer kam Donald herbeigelaufen,
Weitere Kostenlose Bücher