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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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überstehen.
    Nach vier schlaflosen Nächten erschien dann Teil eins des Essays. David zeigte ihn dem Rektor, seinem Englischlehrer, Nick, Balu sowie nach seiner Heimkehr aus der Schule Großonkel Francis, Sir William H. Rifkind, der zufällig im Hause war, den meisten Angehörigen des Dienstpersonals und seiner Mutter. Diese brachte die Zeitung in Vaters Arbeitszimmer.
    David stand davor und wartete gespannt auf eine Reaktion. Er war wahnsinnig aufgeregt, das Parkett unter seinen Füßen drohte Blasen zu schlagen. Dann hallte ein Aufschrei durch das Haus, ein Stich, der direkt in Davids Herz ging.
    Später tröstete Maggy ihren Sohn, dieser Laut der Verzweiflung habe nichts mit seinem Schreibstil zu tun gehabt. Vater sei nur einmal mehr unter der Last der Meldung vom Titelblatt zusammengebrochen. Beim Anblick der Mauern von Fort Douaumont habe ihm für eine eingehendere Lektüre des Essays leider die Kraft gefehlt. Aber er werde das bestimmt bald nachholen.
    David begann die manischen Depressionen Geoffreys zu hassen. Eben noch in Hochstimmung, war er nun unendlich enttäuscht. Warum konnte sich Vater nicht mit ihm freuen? Er, David, verlangte doch nicht viel von ihm. Anderthalb Jahre lang hatte er die seelische Lähmung seines Vaters so gut wie klaglos hingenommen. Hätte er da nicht wenigstens diesen großartigen Erfolg mit einem kleinen Lob honorieren können? Doch nichts dergleichen geschah. Geoffrey ließ auch nach Erscheinen von Teil zwei des Artikels nicht von sich hören. Und David empfand zum ersten Mal Verachtung für ihn.

 
    Das Unglück
     
     
     
    Drei Tage nach der Veröffentlichung des zweiten Teils der »Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Patriotismus in Japan und dem Vereinigten Königreich« befand sich David noch immer in einem Zustand tiefer Niedergeschlagenheit. Von der Kommandobrücke des Kreuzers Camden Hall kam nur Schweigen. Der Erste Offizier, Margret Countess of Camden, bemühte sich die Laune des Maats David mit süßen Bestechungsgeschenken und Vertröstungen auf einen Wechsel der Großwetterlage aufzubessern, aber das half nur wenig.
    Wie schon die ganze Woche verließen David und Balu auch an diesem Freitagmorgen sehr früh das Haus. Es regnete in Strömen, deshalb nahmen sie den Bus. Die fahrbare Sardinenbüchse brachte sie direkt bis zur Westminster Abbey. An der Haltestelle dort wartete bereits ein knallrotes Knäuel von Omnibussen – nicht weniger als sechs Linien trafen hier aufeinander –, weil sich der Verkehr infolge eines Rohrbruchs staute.
    Der weißhaarige Junge und sein dunkelbrauner Schatten zwängten sich durch ein interessiertes Publikum, das sich am Anblick der nassen Stadtwerker und stecken gebliebenen Automobile erfreute. David entließ seinen Leibwächter in Richtung eines Pubs, der sich in der Victoria Street befand und erst in ein paar Stunden öffnen würde. Balu würde zum Schulschluss rechtzeitig wieder zurück sein. Diese Regelung hatte sich bewährt, vor allem in den Wintermonaten. Sie ermöglichte Wächter wie Bewachtem ein Höchstmaß an Freiheit. Das entsprach zwar vielleicht nicht ganz der Vorstellung Geoffreys, aber erstens kümmerte der sich nicht mehr um solche Feinheiten und zweitens passierte ja sowieso nie etwas.
    Als David am gewohnten Treffpunkt südlich der Abtei eintraf, war es kurz vor sieben. Von den anderen Klassenkameraden hatte sich noch niemand eingefunden. Nick kam sowieso immer erst in letzter Minute.
    Einen Moment stand David unschlüssig herum und hörte dem Regen zu, der auf seinen schwarzen Schirm trommelte. Obwohl dieses nicht wegzudenkende Utensil der Westminsteruniform laut Schulbroschüre nur »zur Unterscheidung von den Boten der City-of-London-Bank« diente, leistete es ihm an Tagen wie diesem dennoch wertvolle Dienste. Leider ließ sich die deprimierende Stimmung weder durch Schirm noch Mantel abhalten.
    David blickte sich schniefend um. Nirgends tauchten bekannte Gesichter aus der Morgendämmerung auf. Ihn fröstelte. Um seine ungemütliche Lage wenigstens etwas aufzubessern, beschloss er in den Kreuzgang zu gehen und dort auf die anderen zu warten.
    Von der Schule her gelangte man durch eine Pforte zu den Great Cloisters. Die Gittertür schwang quietschend auf und David schlenderte in den Wandelgang, blickte kurz durch einen der gotischen Fensterbögen in den Innenhof und spazierte dann links entlang, also in westliche Richtung. Unter der Maske des noch schwachen Tageslichts wirkten die verlassenen Gänge irgendwie

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