Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Markierungen konnten wir selbst noch nach zweitausendfünfhundert Jahren unsere Zierwände hier im Museum problemlos zusammenfügen. Während ich um die Jahrhundertwende das Versatzmarkensystem studierte, habe ich mir eine Mustersammlung angelegt, um später einmal die Techniken der babylonischen Serienfertigung belegen zu können…«
»Und dabei wanderte auch die vermeintliche Rosetten-Schablone in Ihren Musterkoffer.«
Andrae lächelte fast schüchtern. »Nun, es war wohl eher eine Musterkiste. Ich bewahre sie in einem besonderen Raum auf. Wollen wir mal nachsehen, ob die Glaskugel noch da ist?«
David stand schon auf den Füßen. Er folgte dem Wissenschaftler in unbekannte Tiefen des Gebäudes. Andrae führte ihn durch einen Verbindungstunnel in den Keller des Kaiser-Friedrich-Museums, am Nordende der Insel. Dort öffnete er eine Eisentür und wenig später eine Holzkiste.
Eingebettet in Holzwolle lagen eine ganze Reihe von Ziegeln, auf denen David die erwähnten Versatzmarken erkennen konnte. Ein wenig erinnerten sie ihn an japanische Schriftzeichen.
»Ah, da ist sie ja«, freute sich Andrae und förderte im nächsten Moment die Glaskugel zutage. Er legte sie auf eine Kiste genau unter der Kellerlampe. »Sehen Sie, hier ist das Muster, von dem ich Ihnen erzählt habe.«
David spürte einen Schauer seinen Rücken hinabkriechen. Ja, er sah es. Die Kugel war nicht klar, wie er es eigentlich erwartet hatte, sondern eher milchig, vermutlich vom Wüstensand im Laufe von Jahrhunderten stumpf geschliffen. Und trotzdem spielte sie noch auf ihre merkwürdige Art mit dem Licht.
Jede normale Glaskugel hätte auf ihrer Unterlage – weil das Licht die Mittelachse ja fast ungehindert durchdringen kann – ein helles Zentrum gebildet, umgeben von einem dunklen Schattenring, aber diese hier war zusätzlich von zwölf hellen Flecken umgeben, die wie die Stundenmarkierungen eines Zifferblattes auf dem Außenrand leuchteten.
David beugte sich zu der Kugel herab. Nein, er täuschte sich nicht. Die zwölf Lichtkreise waren nicht rund, sondern eher oval. Wie Gesichter. Früher hatte er manchmal zum Mond hinaufgeschaut, und wenn dieser nur von einem zarten Wolkenschleier verhüllt war, hatte er geglaubt, ein Gesicht zu sehen. Hier verhielt es sich ähnlich. Wieder schauderte ihn. Bildete er sich das alles nur ein? Wenn dieses seltsame Lichtspiel nur deutlicher wäre!
Er hob die Kugel langsam an und die zwölf »Gesichter« lösten sich von dem Schattenring, schienen nun wie dreidimensionale Lichtbälle im Raum zu schweben.
»Ich habe noch nie eine so seltsame Reflexion gesehen«, flüsterte David.
»Ehrlich gesagt, geht es mir ebenso«, meinte Andrae.
»Vielleicht werden diese Spiegelungen durch irgendwelche Einschlüsse in der Kugel hervorgerufen. Schade, dass sie so zerkratzt ist.«
»Das ließe sich ändern.«
David blickte den Wissenschaftler aus großen Augen an. »Aber ist das nicht für Sie ein Artefakt von unschätzbarem Wert…?«
»Sie glauben gar nicht, was Archäologen alles anstellen, um zerschundene Kunstwerke aus alter Zeit wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Ihre Hartnäckigkeit hat mich neugierig gemacht, Herr Pratt. Vielleicht ist an dieser Jason-Alexander-Tränen-Geschichte ja doch mehr dran, als ich bisher geglaubt habe. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit, dann werden Sie diese ›Träne‹ – so es denn eine ist – wieder in ihrem ursprünglichen Zustand sehen.«
David konnte sein Glück kaum fassen. Vertraulicher als sonst raunte er dem renommierten Wissenschaftler zu: »Haben Sie sich schon überlegt, was Sie Frau Radtke erzählen, wenn sie von dieser Entnahme hier erfährt und über diesen Vorgang kein Formular in dreifacher Ausfertigung auf ihrem Schreibtisch findet?«
Von dem Glücksgefühl sollte David noch mehrere Tage zehren. Endlich hatte er ein Mittel gefunden, den Kreis der Dämmerung einschließlich seines Hauptes, Lord Belial, zu vernichten. Das heißt, nicht ganz. Noch gab es zwei ungeklärte Fragen: Wie konnte man den Schattenlord »im Lichte der Tränen rufen« – um Jasons Worte zu gebrauchen – und wie ließ sich der Fürstenring dann schnell und gründlich zerstören?
Obgleich David beabsichtigte, der Museumsbibliothek oder dem ihm zuletzt doch sehr gewogenen Walter Andrae dieses letzte wichtige Geheimnis zu entreißen, versprach er sich doch mehr Erfolg von Lorenzo Di Marcos Forschungsarbeit in den unergründlichen Tiefen der Vatikanischen Archive. Deshalb und weil
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