Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
den Saal, hinreichend unverdächtig, wie er meinte: schlendernd, die Hände in den Hosentaschen, diesem und jenem zunickend, als würde man sich schon seit langem kennen. Seine Ruhe war allerdings nur gespielt, in Wirklichkeit fühlte er sich wie ein einsames Gnu inmitten einer Horde von hungrigen braunen Hyänen.
Nach einer Weile suchte er sich wegen seiner weichen Knie einen freien Platz im hinteren Drittel des Saales. Hier ließ er sich von einem kräftig gebauten, bezopften Mädchen einen Bierkrug bringen und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Der Saal füllte sich zusehends, doch die beiden langen Tische, beiderseits eines Rednerpults auf der Bühne aufgestellt, waren noch verwaist. Die Hauptakteure dieses Spektakels ließen sich Zeit, planten vermutlich einen großen Auftritt in einem überfüllten, vor Spannung knisternden Saal.
Dann – als die Besetzung der leeren Plätze nun wirklich nicht mehr zu erwarten war – betraten die Gladiatoren endlich die Arena. Sie waren alle gekommen. Wie auf dem Plakat angekündigt. Göring, Röhm, Hess, Goebbels. Und Hitler.
Während der Saal minutenlang tobte, unternahm die Herrenriege auf der Bühne eher halbherzige Versuche den Beifall einzudämmen. Erst als die Kondition der Jubilierer nachließ, begannen die üblichen Ansprachen. Schon nach kurzer Zeit war klar, dass es hier nicht darum ging, politische Positionen darzulegen, Zweck der ganzen Übung war vielmehr die Einstimmung, ja geradezu das Einpeitschen der Gefolgschaft auf eine bevorstehende große Schlacht. Bald schon fühlte sich David zutiefst unwohl inmitten dieser brodelnden Masse, deren Begeisterung sich ihm nicht erschließen wollte – was zweifellos früher oder später auffallen würde. Als dann Ernst Julius Röhm an das Pult trat, kam sich der stille Beobachter unweigerlich in die Zeiten des Großen Krieges zurückversetzt vor, wurde an Kommandeure erinnert, die ihren Untergebenen »wahres« Heldentum nahe brachten.
Röhm war ein NSDAP-Mann der ersten Stunde, hatte für die Beteiligung am Münchener Hitler-Putsch im Gefängnis gesessen, die SA aufgebaut, sich später mit seinem »Führer« überworfen und einige Jahre als Militärberater in Bolivien zugebracht. Dann hatte sich Hitler wieder der Qualitäten des verlorenen Sohnes entsonnen und ihn heim ins Reich gerufen. Seit 1931 stand Röhm der SA als Stabschef vor und hatte den Schlägertrupp seitdem zu einer stattlichen Stärke von mehreren hunderttausend Mann hochgepäppelt.
Alles, was Röhm ins Mikrofon schrie, klang irgendwie nach Befehl. Aber er fasste sich erfreulich kurz. Seine Truppe hatte ihn gesehen, gehört. Jetzt war es Zeit für den »Führer«.
Adolf Hitler trat mit jener Bedächtigkeit ans Pult, wie sie gewöhnlich Reckturner an den Tag legen, bevor sie sich plötzlich und kraftvoll auf ihr Gerät schwingen. Der eher schmächtige NSDAP-Führer begann leise und steigerte sich im Laufe seiner Ausführungen zu immer größerer Lautstärke. In seinem Hals musste sich ein Überdruckventil befinden, das die stark komprimierten Sätze aus dem Hirn immer nur in Schüben von drei bis sechs Worten entweichen ließ. Eher selten kam auch einmal ein längerer Schwall von Parolen.
David war zu der Veranstaltung gegangen, weil er einen vagen Verdacht hegte. Was, wenn nicht der entthronte Reichskanzler, sondern Hitler selbst der gesuchte Logenbruder Belials wäre? So unwahrscheinlich dieser Gedanke David auch erschien, wollte er zumindest die Probe aufs Exempel machen. Er beabsichtigte die gleiche Methode einzusetzen, die schon Toyama entlarvt hatte: die bedingte Farbgebung.
Wenn du ein Mitglied des Kreises der Dämmerung bist, sprach David in Gedanken zu Hitler, dann soll dein Schnauzbart augenblicklich weiß werden.
Gespannt blickte er auf die Lippen des NSDAP-Führers. Gerade spritzten ein paar leisere Töne aus seinem Mund. Hitler zeigte sich überrascht davon, zu welch ruhmreicher Größe die Partei seit seinem letzten Besuch in dieser Halle aufgestiegen sei. Der Name des Saals, so schwor er, solle ihm Programm sein. Eine »Neue Welt« werde er schaffen…
Der Bart veränderte sich nicht. Während Hitler kein Wort über die letzten Wahlniederlagen verlor und stattdessen nur die Notwendigkeit eines starken Deutschlands unter (s)einer starken Führung anmahnte, wagte David die Gegenprobe.
Dein hässlicher Schnauzer soll augenblicklich weiß werden, wenn du nicht zu Belials Logenbrüdern gehörst.
Diesmal war die Wirkung verblüffend.
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