Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Hitlers Oberlippenbürste wurde augenblicklich weiß wie Schnee. Er selbst bemerkte diese Verwandlung überhaupt nicht, weil gerade eine Flut von Verwünschungen wegen einer angeblichen »Verschwörung des Weltjudentums gegen das deutsche Volk« aus ihm heraussprudelte. Doch im Saal entstand Unruhe.
Einzelne Fotoapparate wurden hochgerissen, Blitze zuckten durch die Halle. Als man endlich wieder klar sehen konnte, zeigte sich auf der Bühne das vertraute Bild des Österreichers: klein, kämpferisch und dunkelbärtig.
Hitler mochte sich fragen, ob es seine letzten Äußerungen über die Juden gewesen waren, die im Saal für Rumoren gesorgt hatten. Er war es gewohnt, frenetischen Beifall zu ernten. Und nun das!
Die giftigen Äußerungen des braunen Agitators hatten David einen eisigen Schauer über den Rücken getrieben. Er musste an Rebekka denken. Sie war einer von jenen »unsäglichen Blutsaugern«, gegen die der Giftzwerg da oben so geiferte. Über den unflätigen Beschimpfungen hatte er die Rückverwandlung Hitlers fast vergessen.
Jetzt – im Saal kehrte allmählich wieder ehrfürchtiges Schweigen ein – sann David auf Vergeltung. Nichts Schlimmes würde er dieser johlenden Masse antun, keinen bleibenden Schaden der Menge zufügen, die ihren Verstand so bereitwillig auf dem Altar der nationalsozialistischen Ideale opferte, aber einen kleinen Schreck wollte er den »lieben Parteigenossen« schon einjagen.
Mit einem Mal hatte jeder, ob nun bereits im ehrfürchtigen Besitz einer solchen Nasenbürste oder nicht, einen dunklen, schnauzbartähnlichen Fleck auf der Oberlippe, auch die Frauen.
Erneut flammte Unruhe auf. Die Besitzer von Fotoapparaten vergaßen den Knipsreflex und starrten nur auf die vielen Hitler-Imitatoren an den Biertischen. Das große Vorbild auf der Bühne – die Urform gewissermaßen – stoppte seinen Redeschwall und blickte ungläubig in die Reihen der Nachahmer.
In diesem Moment fiel David siedend heiß ein, dass er als Einziger nicht über das Hitler-Mal verfügte. Rasch beendete er sein Experiment.
Das Raunen in der Neuen Welt hielt noch eine ganze Weile an. Was war geschehen? Das Bier, meinten einige. Ein Zeichen, flüsterten andere. Manche schrieben die Erscheinung der mitreißenden Rede des Führers zu. Bald hingen wieder alle an jenen Lippen, die der Prototyp des verehrten Mannesschmucks bekrönte.
Nein, dachte David, dieser Adolf Hitler war vielleicht der ideale Scherge Belials, aber er gehörte nicht zu dessen Logenbrüdern. Als der Schnauzbart mit einem mehrfachen »Sieg Heil!« auf dem Höhepunkt seiner Rede angelangt war, zog sich David unauffällig aus dem Saal zurück. Ihm war ganz schwindelig angesichts der Dreistigkeit, mit der dieser kleine Mann »die sozialdemokratische rote Brut, den Bolschewismus und vor allem die jüdische Weltverschwörung für das Elend des deutschen Volkes« verantwortlich gemacht hatte. Mochte Hitler doch mit seinen Anhängern Schlitten fahren, wie es ihm beliebte, er, David, hatte genug gesehen und gehört und lechzte nach frischer Luft. Er würde diesem Tag nun einen echten Glanzpunkt aufsetzen und mit Rebekka und Benni bis zum Dunkelwerden die Rixdorfer Höhe hinunterrodeln.
Eine Weile lief er einfach nur durch den Park, um seinen Kopf frei zu bekommen. Kurt von Schleicher hatte auf der Genfer Fünfmächteabrüstungskonferenz eine gute Figur gemacht. Deutschland war von den anderen Teilnehmern als gleichberechtigter Partner anerkannt worden. Hoffentlich würde sich Hitler an diesem Reichskanzler die Zähne ausbeißen.
Nachdenklich blieb David vor dem Denkmal des »Turnvaters Jahn« stehen, der die Körperertüchtigung in Deutschland zu einer Massenbewegung gemacht hatte. Ein Berliner Poet, Joachim Ringelnatz, hatte dies als Anlass für seine »Turngedichte« genommen.
Sitzwellend einst, dem Wellensittich gleich, so werden wir uns droben wiederfinden.
Die Bewohner dieser pulsierenden Metropole hatten einen etwas eigenwilligen Humor. Gerade aber deshalb mochte David sie.
Mit ausgreifenden Schritten setzte er seinen Weg fort. Es gab wahrhaft Wichtigeres auf der Welt, als einem braunen Vorturner dabei zuzusehen, wie er seine Wellen am Reck drehte. David würde noch ein paarmal die Rixdorfer Höhe hochrennen, mit einem quietschenden Benjamin im Schlepptau und einer glücklichen Frau am Arm.
Weihnachten am Richardplatz 4 war immer ein ziemlich ruhiges Ereignis. Die jüdischen Hausbewohner feierten dieses Fest ebenso wenig wie die
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