Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
dem Schwarzmantel hinterher. Ob ihn wohl für seine Meldung eine Prämie erwartete? Oder wenigstens eine Streicheleinheit?
Als der letzte SS-Mann das Haus verlassen hatte, kehrte eine bedrückende Stille ein. Wie betäubt standen die Nachbarn beieinander, sahen sich an, ohne auch nur irgendetwas sagen zu können. Da ertönte ein Knarren.
Alle Augen wandten sich der Haustür zu, die jetzt einen Spaltbreit offen stand. Herein ragte der massige Schädel von Gottfried Herz. Der Blockwart hatte wohl nicht bedacht, dass er ohne eine Eskorte in den dritten Stock zurückkehren musste.
Vorsichtig, jederzeit fluchtbereit schlich er sich ins Treppenhaus, überwand die Stufen, die zu den Parterrewohnungen hochführten. Auf der Treppe vor ihm stand Onkel Carl, zu seiner Linken und Rechten standen die Pratts und die Blumenthals. Ein Spießrutenlauf bahnte sich an.
»Sie sollten sich schämen!«, rief Chaim, ein noch sehr milder Tadel für das, was Herz verbrochen hatte.
»Warum versuchen Sie nicht die Menschen etwas besser kennen zu lernen, bevor Sie sie bei Ihrem Zellenwart anschwärzen?«, fragte David bedrohlich ruhig. »Dann würden Sie möglicherweise feststellen, dass diese Leute gar keine solchen Scheusale sind, wie Ihnen Ihr Führer immer weismachen will.«
»Wollen Sie etwa behaupten, der Führer spricht nicht die Wahrheit?«, schnappte Herz nach links, um sich gleich darauf nach rechts zu wenden, ein in die Enge getriebener Köter. »Und Sie«, zischte er, mit dem wurstartigen Zeigefinger auf Chaims Nase zielend, »kommen auch noch dran. Wir wollen kein Judenpack im Haus haben.«
Ehe irgendjemand etwas erwidern konnte, war Herz wie ein geölter Blitz an Onkel Carl vorbei die Treppe hinaufgeschossen.
»Eine fette Bulldogge auf der Flucht«, kommentierte der alte Mann das Bild. Bestimmt hätte auch jemand gelacht, wäre die Situation nicht so ernst gewesen.
»Was hat er damit gemeint, wir kämen auch noch dran?«, fragte Ester mit zittriger Stimme.
»Der droht doch nur«, versetzte Onkel Carl.
»Vielleicht sollten wir den Herz trotzdem nicht unnötig reizen«, wandte Chaim ein.
»Sich mit dem Blutegel auch noch gut stellen? Niemals!« Onkel Carl entwickelte jetzt ein geradezu jugendliches Temperament. »Hitler terrorisiert uns Juden schon lange genug. Du musstest deinen Buchladen aufgeben, weil sie dir die Kundschaft vergrault haben. Mir wurde die Pension gestrichen. In vielen Gemeinden dürfen wir nicht mehr die Kinos, Schwimmbäder oder Erholungsanlagen betreten. Viele unserer Zeitungen sind verboten worden. Schlimmer kann’s doch gar nicht mehr kommen! Hitler ist für mich ein Anachronismus. Ein Mann, der im zwanzigsten Jahrhundert seine Mitbürger derart schikaniert, der kann sich unmöglich lange halten.«
Woher hatte der Schwarzmantel Davids Namen gekannt? Das Schild neben der Wohnungstür jedenfalls war von ihm keines Blickes gewürdigt worden. David beschäftigte diese Frage noch lange, nachdem nun auch der erste Stock zur Hälfte in Nazi-Hände gefallen war.
»Pack bitte ein paar Sachen in unsere Koffer oder Reisetaschen«, wies er Rebekka noch am Samstag an. »Nur für den Fall, dass wir plötzlich abreisen müssen.«
Abends traf sich David mit Väterchen alias Lloyd Ayckbourn. Er wollte sein Wissen mit jemandem teilen, der vielleicht etwas bewegen konnte, um den Verfolgten im Allgemeinen und den Hermanns im Besonderen zu helfen. Wenn das Vereinigte Königreich Druck auf Hitler ausübte, dann konnte diesem Nazi-Terror möglicherweise Einhalt geboten werden. Aber der britische Geheimdienstchef von Berlin nahm die ganze Situation nicht so ernst. Er versprach zwar, einige seiner Kontakte spielen zu lassen, machte aber auch klar, dass selbst Whitehall gegen unliebsame Gegner vorging. Natürlich nicht so radikal. Aber war es nicht das legitime Recht einer Regierung, sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen?
David verstand die Welt nicht mehr. Das heißt, er begriff mit jedem Tag besser, welcher Zynismus oft selbst Länder regierte, die sich als Ausbund der Tugendhaftigkeit verkauften. Doch gerade das machte ihn so wütend. Als Väterchen ihm anbot, in Zukunft stärker für den Secret Intelligence Service tätig zu werden, um damit einen größeren Beitrag zur Neuordnung der Welt zu leisten, blickte David ihn nur verständnislos an.
»Weshalb stehen Sie eigentlich meinem Anliegen so abwehrend gegenüber, wo wir beide doch dasselbe – das friedliche Zusammenleben der Menschen –
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