Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
anstreben?«, wollte Väterchen wissen.
»Möglicherweise liegt es daran, dass wir unterschiedliche Ansichten über den richtigen Weg zu diesem Ziel haben. Ich möchte nicht eines Tages in einer Sackgasse enden. Daher folge ich meinem eigenen Kurs.«
Väterchen lächelte nachsichtig. Beleidigt konnte man ihn sich ohnehin nicht vorstellen. »Irgendwann werden auch Sie einsehen müssen, dass Appelle an die Menschlichkeit nicht in jedem Fall ein adäquates Mittel sind.«
David ging weiter seinen Weg. Mit großer Behutsamkeit setzte er sein »Agentennetz« in Berlin und Umgebung wieder instand. Dank seiner Gabe der Wahrhaftigkeit konnte er vielen Menschen ins Gewissen reden. Er appellierte an den natürlichen Abscheu des Einzelnen vor jeder Form von Ungerechtigkeit. Der Mensch besitzt ein angeborenes Empfinden für Recht und Unrecht, das war seine feste Überzeugung. Leider gab es nur zu viele, deren Gewissen abgestumpft war.
Einige der Adressaten von Davids Sensibilisierungskampagne gehörten der Wehrmacht an. Hitler gab sich große Mühe die Muskeln seines Landes zu stählen, mit Panzern, Flugzeugen, Kriegsschiffen und Soldaten. Maßnahmen wie die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht unterliefen zwar den Versailler Vertrag, schienen aber durch die Dolchstoß-Legende gedeckt, die längst zu einer festen Größe im braun kolorierten Weltbild eines jeden »guten Deutschen« geworden war: Im letzten Krieg sei das Heer von den Politikern gemeuchelt worden. Jetzt hieß es, den Kadaver zu beschwören, damit er sich aus dem Grabe erhob.
Wegen der eher bescheidenen Ergebnisse der Einflussnahme auf die Creme der deutschen Gesellschaft konzentrierte sich David schließlich wieder mehr auf seine journalistische Arbeit. Als Auslandskorrespondent von Time gelang es ihm, bei so mancher zweitrangigen Persönlichkeit im Machtapparat Zweifel am System zu säen. So auch bei einem jungen Offiziersanwärter namens Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der noch von sich reden machen sollte. Davids größter Hoffnungsträger war allerdings nach wie vor Lorenzo Di Marco. Kurz nachdem die Italiener Anfang Mai 1936 in Addis Abeba eingezogen waren, traf ein sehr nachdenklich gestimmter Brief des Benediktiners am Richardplatz ein. Zwischen den Zeilen war deutlich von der Verzweiflung Lorenzos über die Reformunwilligkeit seiner Kirche zu lesen. Aber es gab auch Verheißungsvolles in dem Brief.
Lieber David!
Es ist alles gekommen, wie von dir befürchtet. Obwohl Kaiser Haile Selassi in seinem Land die Sklaverei abgeschafft hat, ist Mussolini über ihn hergefallen. Aus der päpstlichen Fabrik stammte die Munition, mit der die fast wehrlosen abessinischen Freiheitskämpfer hingeschlachtet worden sind. Aber nicht nur deshalb schreibe ich dir. Bei der Suche nach der Glaskugel bin ich auf viel versprechende Hinweise gestoßen. Offensichtlich sind aus der Handschriftensammlung, die ursprünglich in der Bibliothek von Cordoba aufbewahrt wurde, vor nicht allzu langer Zeit einige Manuskripte entwendet worden. Den fehlenden Archivnummern zufolge könnte es sich dabei um Aufzeichnungen von Ibn Ruschd handeln, und zwar aus demselben Schriftenzyklus, in dem auch, wie du weißt, die »Bruderschaft vom Ende des Sonnenkreises« erwähnt wird. Ich dachte, das gibt dir ein wenig Hoffnung, wo wir doch alle gerade jetzt ein gehöriges Quantum davon gebrauchen können. Möge Gott uns allen beistehen.
Lorenzo
David machte sich seinen eigenen Reim auf Lorenzos Nachricht. Eine Passage war ihm sofort aufgefallen: »vor nicht allzu langer Zeit«. Er würde sich nicht wundern, wenn Kardinal Pacelli seinem Freund Papen die Manuskripte als Dreingabe zum Großkreuz des Piusordens ins Reisegepäck gelegt hätte. David verfasste umgehend ein Antwortschreiben, in dem er den Benediktiner bat nach Abschriften oder sonstigen Kopien von Ibn Ruschds Aufzeichnungen zu forschen. Diese seien bei bedeutenden Dokumenten keine Seltenheit. Aber Lorenzo möge sich beeilen. Die »Erfolge« Italiens im Abessinienkrieg könnten Hitler den Mund wässrig machen.
Davids Ahnung bestätigte sich: Am 1. November 1936 verbrüderten sich die beiden Diktatoren. Neben dieses Bündnis, die so genannte Achse Rom – Berlin, trat noch im selben Monat der Antikominternpakt zwischen Deutschland und Japan. Mit General Franco, der in Spanien einen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen hatte, arrangierte man sich ebenfalls zu beiderseitigem Nutzen. Jetzt gab es nur noch einen großen
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