Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Gehirnerschütterung und der Platzwunde auf dem Kopf zu erholen: In Wahrheit sollte es ein Warten auf den Tod sein.
Im Augenblick stand er jedoch mit dröhnendem Schädel hinter einer Tür, durch deren Glasfüllung er unscharf die Wachen erkennen konnte. Was er zu tun beabsichtigte, war ein Risiko. Hermann hatte ihm von einer jungen Frau erzählt, die am Vorabend bei einem Straßenbahnunglück tödliche Verletzungen erlitten hatte. Jetzt lag sie in der pathologischen Abteilung. Die Bedauernswerte sollte Rebekkas Platz einnehmen. David sah auf seine Armbanduhr: Noch eine Minute, bis Hermann mit der Leiche kam.
Nach der Erläuterung des Plans hatte der Arzt seinen alten Kriegskameraden zunächst für verrückt erklärt. Das änderte sich erst, als David ihm einige Kostproben seiner außergewöhnlichen Begabungen zeigte. Anschließend musste der Mediziner seinem Patienten in knappen Worten die Funktionsweise des menschlichen Auges erklären. Jetzt würde sich zeigen, ob David alles richtig verstanden hatte.
Der Minutenzeiger der Armbanduhr sprang auf die vereinbarte Position. David öffnete vorsichtig die Tür zum Flur, damit er die Wachen besser sehen konnte. Nur zur Sicherheit dämpfte er die Schwingungen der Luft so weit, dass man das Klicken des Schlosses nicht mehr hören konnte. Die vier Wachen trugen SS-Uniformen – Hitlers Elitetruppe.
Als Nächstes konzentrierte David sich auf die Linsen in den Augen der Wachen. Sie sollten sich schnell trüben, wie bei einem plötzlichen Anfall von grauem Star. Es dauerte dann auch nur wenige Sekunden, bis die Männer sich die Augen zu reiben begannen. Sie stießen angstvolle Laute aus. Kurz darauf waren sie völlig blind. David hörte bereits das Schnarren der Räder der von Hermann herbeigeschobenen Bahre. Nun kam die letzte Phase des Ablenkungsmanövers. David fror die Zeit für die SS-Leute ein.
Selbst ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er sich vorzustellen versuchte, was die nahezu bewegungsunfähigen Wachleute im Moment empfinden mussten. Sie waren blind und – wegen der Trägheit ihrer Trommelfelle – so gut wie taub. Aber bemerkten sie auch, um wie viel schneller die Zeit um sie herum verstrich?
Hermanns Augen verrieten Bestürzung, als er an den erstarrten Wachen vorübereilte. David folgte ihm bis zur Tür von Rebekkas Krankenzimmer. Weil er die SS-Leute nicht aus den Augen verlieren durfte, konnte er nur von draußen beobachten, wie der Arzt unter einigen Schwierigkeiten die leblosen Körper vertauschte. Rebekka hatte seit dem Unfall ihre Besinnung nicht zurückerlangt. Einbandagiert von Kopf bis Fuß ähnelten sich die beiden Frauen wie ein Ei dem anderen.
Als Hermann die Bahre endlich auf den Gang schob, atmete David etwas auf, wenngleich ihn Rebekkas Zustand erschütterte. Sekundenlang drückte und küsste er ihre rechte Hand, die wie ein Fremdkörper aus den Verbänden herausragte. Dann wischte er sich die Tränen ab und nickte Hermann zu.
Der Arzt verschwand mit Rebekka hinter einer Pendeltür. Er würde sie nach Dienstschluss – in weniger als einer Stunde – in seinem Wagen vom Gelände des Schwabinger Krankenhauses fahren. Bis dahin musste sie ohne fremde Hilfe überleben.
David zog sich wieder in sein Zimmer zurück. Bald würde Hermann zurückkehren und seine Verlegung in die innere Abteilung anordnen. Langsam ließ David die vier Wachen wieder in den normalen Zeitfluss zurückgleiten und nahm ihnen den Schleier von den Augen.
Gleich darauf öffnete einer der SS-Leute die Tür, er wollte überprüfen, ob vielleicht während seiner unerklärlichen Benommenheit etwas passiert war. Erleichtert sah er Rücken und Hinterkopf des Gefangenen, der ruhig und gleichmäßig atmete, und zog sich leise zurück.
David wischte sich die Tränen aus den Augen. Rebekka! Wenigstens haben sie dich nicht bekommen, wenn schon ich diesen grausamen Tod sterben muss.
Nur der Wachsamkeit von Konstanze war es zu verdanken, dass David noch immer im Besitz des Fürstenrings war. Fuchsteufelswild seien die SS-Leute gewesen, berichtete die Krankenschwester ihm später mit einem schalkhaften Lächeln. Sie habe sich selbst gewundert, mit welcher Energie die Uniformierten Davids Habseligkeiten durchsucht und erst nach geraumer Zeit den Rückweg zum Unfallort angetreten hatten – einer sagte, sie wollten das Chaos dort noch einmal genauestens unter die Lupe nehmen. Jedenfalls wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass braune Parteigenossen sich an den
Weitere Kostenlose Bücher