Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Wertsachen ihrer Opfer bereichert hätten, erzählte Schwester Konstanze – jetzt mit erboster Miene –, weshalb sie und Hermann solche Gegenstände seit geraumer Zeit heimlich beiseite schafften, um sie den rechtmäßigen Eigentümern später wieder auszuhändigen.
Die aufmerksame Pflegerin war es auch, die David nun über Rebekkas Gesundheitszustand in Kenntnis setzte. Dieser sei nach wie vor kritisch, aber doch schon erheblich stabiler als unmittelbar nach dem Unglück, lautete das jüngste Bulletin. Am meisten habe ihren geschwächten Organismus die Verbringung ins Oberallgäu belastet, aber das, so versicherte die Krankenschwester in Hermanns Auftrag, sei leider nötig gewesen, in München bestünde eine ungleich größere Gefahr der Entdeckung. Dafür befinde sich Davids Frau jetzt in den besten Händen, Hermanns ältere Schwester Heidrun habe schon im Großen Krieg wahre Wunder in der Krankenpflege vollbracht.
Schwester Konstanze gehörte zu jener Gattung Mensch, den man gemeinhin als »sonniges Gemüt« bezeichnet. Schlechte Laune schien ihr unbekannt. Sie war etwas pummelig, was ihr aber ausgezeichnet stand, besaß rote Haare, Sommersprossen, ein spitzbübisches Gesicht und das Herz von Hermann Mielke.
Wie David nun – nach zwölf unendlich langen Tagen im Krankenhaus – wusste, hatte Hermann vor drei Jahren seine erste Frau verloren. Sie war an Kindbettfieber gestorben.
Jetzt lebten seine drei Kinder bei der Schwester in Oberstdorf. Er nutzte jede Gelegenheit, um die »drei Orgelpfeifen« im Oberallgäu zu besuchen, hatte Konstanze stolz erzählt und mit einem scheuen Lächeln hinzugefügt, es sei gar nicht so unwahrscheinlich, dass »der wilde Haufen« bald wieder zu richtigen Eltern käme. In Oberstdorf gebe es nämlich einen Landarzt, der sich zur Ruhe setzen wolle. Wenn er sich nur endlich dazu durchringen könnte, Hermann die Praxis zu überlassen, dann wären er und Konstanze bald ein Paar!
David lauschte gerne Konstanzes Zukunftsplänen, solange sie ihm nur Nachricht von Rebekka brachte. Die ungefähr dreißigjährige Krankenschwester nahm schließlich kein geringes Risiko auf sich, wenn sie dem immer noch streng bewachten Patienten heimlich Kassiber zusteckte oder diese aus dem Krankenzimmer schmuggelte.
Mittlerweile hatte sich Davids Gesundheitszustand auf überraschende Weise gebessert. Seine Gehirnerschütterung machte sich nur noch durch gelegentliches Kopfweh bemerkbar, die Fäden der Platzwunde waren bereits gezogen, allein die Prellungen schmerzten stärker als am Tag des Mordanschlags.
Für David gab es keinen Zweifel, dass Papen oder der Jesuit oder beide zusammen ihn durch den fingierten Autounfall hatten umbringen wollen. Nur Davids Verzögerungsgabe hatte wohl in letzter Sekunde Rebekkas und sein eigenes Leben gerettet, aber – war ihm das wirklich gelungen?
Sonderbarerweise spürte er noch nichts von den typischen Tetanus-Symptomen. Eine leise Hoffnung regte sich in David: Schon von seiner Kriegsverletzung hatte er sich besser als damals von Marie vermutet erholt. Vielleicht war die ihm innewohnende, auf ein Jahrhundert bemessene Lebenskraft ja so stark, dass sie selbst mit den bösartigen Wundstarrkrampf-Erregern fertig werden konnte. Hermann hatte versucht ihm Mut zu machen und dabei anklingen lassen, »nur« etwa sechzig Prozent aller Clostridium-tetani-Infektionen verliefen auch tödlich. Gleich darauf merkte er jedoch an, die David injizierte Dosis sei »eminent perfide«, womit er wohl so viel wie »außerordentlich hundsgemein« meinte.
In den letzten Tagen hatte David bei den Visiten wieder zunehmend über Kopfschmerzen geklagt. Auch über Schluckbeschwerden und einen steifen Hals. Die vorgetäuschten Symptome aber waren Bestandteil des Fluchtplans. Zuletzt simulierte er Verkrampfungen im Gesicht. Unter dem gestrengen Blick eines Gestapo-Offiziers notierte der Stationsarzt Risus sardonicus, »sardonisches Lachen«.
An diesem 12. Oktober, einem Mittwoch, übernahm Hermann die Nachtschicht für einen Kollegen aus der inneren Abteilung. Über das Jahr verteilt kam das immer wieder einmal vor, das Ganze würde also keinen Verdacht erregen. Hier war die Chance, auf die David gewartet hatte, die ihn aber auch bangen machte. Denn notfalls musste er seine Gaben auf eine neue, beängstigende Weise einsetzen.
Die beiden SS-Posten kämpften gegen den Schlaf an. Es war bereits zwei Stunden nach Mitternacht, die nächste Ablösung noch fern. Mit einem Mal erhob sich in dem
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