Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Welt, beleuchtet von dem roten Schein der SA-Fackeln.
Und noch eine Welt ging zu Bruch, eine Traumwelt. Nicht wenige hatten bis zuletzt geglaubt, der deutsche Antisemitismus werde sich eine Selbstbeschränkung auferlegen. Spätestens jetzt wurden diese Träumer eines Schlechteren belehrt.
Weil die Oberstdorfer auch früher schon nur jene Art von Juden geduldet hatten, die an Kreuze genagelt waren, konnte man in der Abgeschiedenheit dieses Ortes nur schwer abschätzen, welcher Feuersturm in der Pogromnacht tatsächlich über das Land gefegt war. Als Hermann am Freitag, dem 11. November, aus München kam und von dem berichtete, was er mit eigenen Augen in dieser Stadt gesehen hatte, wurde der Schrecken schon deutlicher Es sollte noch einige Zeit vergehen, bis David über seine langsam wieder »nachwachsenden« Kontakte einen vollständigen Überblick erhielt.
Mehr als siebentausend jüdische Geschäfte sowie fast alle Synagogen im gesamten Deutschen Reich waren von Angehörigen der NSDAP und der SA zerstört worden. Einundneunzig Menschen hatte der Pöbel ermordet, um die dreißigtausend waren vorübergehend in Konzentrationslagern interniert worden. Die Nazis rechneten die Ausschreitungen dem »Volkszorn« gut, für David bewiesen sie unmissverständlich, dass der Jahrhundertplan funktionieren konnte.
In Oberstdorf ging das Leben seinen gewohnten Gang. Und in jenem Bauernhaus von Ludwig und Heidrun Aichinger, das da so verlassen an der Straße zum Nebelhorn lag, »schälte« Heidrun ihre Patientin wie eine Zwiebel. Ein Verband nach dem anderen fiel. Rebekka bestand schon bald darauf, dass die Schmerzmittel abgesetzt wurden.
Ende November kam endlich die erhoffte Meldung von Dr. Selmlinger: Januar 1939 wolle er sich aufs Altenteil zurückziehen. »Noch ein paar ruhige Tage einschieben, bevor der Sensenmann kommt.« Hermann Mielke kündigte sofort seine Stellung in München und übernahm die Praxis des alten Landarztes. Schon am 2. Januar empfing er in Oberstdorf seine ersten Patienten.
Zwei Wochen später heiratete Schwester Konstanze den neuen Doktor. Heidrun sorgte für eine richtige Bauernhochzeit. Unter den mehr als hundert Gästen fiel David überhaupt nicht auf Ein alter Kriegskamerad aus dem Westen. Leider war Rebekka noch zu schwach, um an dem Fest teilnehmen zu können. Deshalb zog sich David früh zurück, um ihr Gesellschaft zu leisten.
Im gelben Licht der Nachttischlampe las er ihr aus einem Buch vor, das sich schon seit geraumer Zeit in seinem Gepäck befunden, das zu lesen er bisher aber keine Gelegenheit gehabt hatte. Es war ein Geschenk von Sean Griffith und trug den Titel I Found No Peace. Der Autor, ein gewisser Web Miller und als Auslandskorrespondent gewissermaßen ein Kollege von David, beschrieb darin die »unfassbare Widerlichkeit und Sinnlosigkeit dieses Krieges«. Miller sprach vom Großen Krieg und David fragte Rebekka, ob die Menschen so dumm, verbohrt oder auch wahnsinnig sein könnten, sich erneut in eine solche »Widerlichkeit« zu stürzen.
Rebekkas Finger bahnten sich den Weg unter einem dicken Federbett hervor zu Davids Hand. »Warum fragst du mich das, David? Wenn die Gefahr nicht bestünde, würdest du nicht diesen erbitterten Kampf gegen den Kreis der Dämmerung führen. Du hast mir einmal erklärt, dass nur Gott das Böse restlos von der Erde tilgen kann. Aber bevor das geschieht, musst du das Gleichgewicht wieder herstellen.«
Er nickte. »Die Geschichte vom yin und yang. Sie stammt von Suda, der Hebamme meiner Mutter, oder vielmehr von ihren chinesischen Ahnen.« Nach einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: »Ich fühle mich nur so klein und unfähig. In gewisser Weise auch unwürdig, wenn du verstehst, was ich meine. Warum soll ausgerechnet ich die Welt retten? Genauso gut hätte mich das Bajonett von Johannes Nogielsky im Herzen treffen können, oder ich wäre einfach verblutet…«
»Das bist du aber nicht!«, unterbrach ihn Rebekka heftig und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Wir haben dich gerettet – meine Mutter und ich.«
David ließ den Kopf hängen. »Was bedeutet das schon?«
»Bei uns Juden gibt es eine Weisheit: Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Du wirst der Beweis für die Wahrheit dieser Worte sein, David.«
Rebekkas Daumen begann die Hand zu streicheln, welche die ihre umschloss. Nach einer Weile sah David traurig zu ihr auf. Wie gut ihm schon diese kleine Liebkosung tat. Er wünschte, er könnte Rebekka endlich wieder so wie früher
Weitere Kostenlose Bücher