Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Augenbrauen und sagte: »Natürlich! Entschuldige, David. Ich halte dich hier mit meinem Geschwätz auf – sie ist oben. Komm!«
Sie erklärte David den Weg – die Holztreppe hinauf, dann scharf rechts, dritte Tür links – und zog sich zurück, um ihren Bruder zu begrüßen.
Langsam stieg David die knarzenden Stufen hinauf. Im Haus roch es nach Holz und getrockneten Kräutern. Als er vor der Tür zu Rebekkas Zimmer angelangt war, wappnete er sich für den gewiss nicht schönen Anblick einer bandagierten und geschienten Elfe. Er drückte zaghaft die Klinke hinunter und trat ein.
Rebekkas Gesicht wandte sich ihm augenblicklich zu. Sie hatte ihn schon erwartet.
»David!«, hauchte sie. Es klang noch sehr schwach. Vermutlich die Schmerzmittel.
Im Nu war David bei ihr, bedeckte alle frei zugänglichen Körperstellen mit Küssen – es waren nicht viele – und kniete sich schließlich neben ihr Bett.
»Du musst nicht vor mir knien. Da steht doch ein Stuhl, du Dummerchen«, sagte sie leise.
Sie konnte ihn schon wieder tadeln. Das war gut!
David schüttelte den Kopf. »Willst du meine Frau sein, Bekka?«
Sie sah ihn einen Moment lang ungläubig an. »Aber das bin ich doch….«
»Ich dachte, du wärst für immer verloren«, erwiderte er mit einem Kopfschütteln. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Vor Glück. »Aber jetzt bist du wieder auferstanden. Und in einem neuen Leben hat man auch eine zweite Chance. Also, was ist? Möchtest du wieder meine Frau sein?«
Nun begannen auch ihre Augen feucht zu werden. »Das ist die dümmste Frage, die mir jemals gestellt wurde, Liebster. Und die schönste. Natürlich will ich das, heute und für alle Zeiten.«
Zufrieden und mit großer Vorsicht legte David sein Gesicht auf ihren Leib. Er konnte ihr Herz schlagen hören und wünschte sich, dass dieser Moment nie verginge.
Die Genesung Rebekkas machte nur langsam Fortschritte. Zu schwer waren ihre Verletzungen. Es sei leichter, die heilen als die gebrochenen Knochen der linken Körperhälfte zu zählen, berichtete Hermann. Das mochte übertrieben sein, brachte aber sehr anschaulich zum Ausdruck, wie es um sie stand. Zudem hatte die Milz einen Riss abbekommen. Auch andere Organe waren in Mitleidenschaft gezogen worden.
Belial hatte Davids Augapfel angerührt. Diese infame Tat verlangte nach einer angemessenen Antwort. Bei nächster Gelegenheit.
Momentan allerdings dümpelte David wie ein Schiffbrüchiger auf dem Meer der Zeit. Beinahe alle Kontakte zur Außenwelt waren abgerissen. Im Bauernhaus der Aichingers konnte er sich zwar frei bewegen, aber jeder Schritt vor die Tür war reiflich zu überlegen.
Das Gesetz verlangte die Meldung von Logiergästen, das aber kam für David und Rebekka aufgrund des Risikos nicht infrage. Sie waren ja tot. Auf Befehl Himmlers verbrannt im Krematorium des Krankenhauses. Andere Bedauernswerte waren an ihre Stelle getreten. Von nun an existierten David und Rebekka nicht mehr.
Oberstdorf war ein Luftkurort. So konnte man zumindest hin und wieder hinausschlüpfen und sich in der Anonymität der Urlaubsgäste einigermaßen frei bewegen. Die nicht einmal zehntausend Einwohner der Marktgemeinde hatten eine Vorliebe für wohl betuchte Individualreisende. Die vom Staat angekarrten Kraft-durch-Freude-Touristen waren mehr geduldet als erwünscht.
Der aus der Not erwachsene Arrest in dem Bauernhaus hatte auch seine Vorteile. David widmete Rebekka sehr viel Zeit, las wieder vermehrt in der Bibel und in anderen Büchern, inhalierte förmlich die Meldungen aus der Presse und dem Äther. Leider waren diese durchweg braun gefärbt, weshalb er auf Hermann und die Aichingers angewiesen war, um ein etwas unverfälschteres Bild vom deutschen Alltag und der Stimmung der Menschen zu bekommen.
Wie von David befürchtet, kam es am 30. Oktober 1938 zu einer deutsch-britischen Nichtangriffserklärung. Neville Chamberlain hatte sich also tatsächlich von Hitler täuschen lassen. Bereits bis zum 10. des Monats waren die tschechoslowakischen Truppen aus den sudetendeutschen Gebieten abgerückt. Doch die von den Briten und Franzosen nun erwartete Zurückhaltung des »Führers der Deutschen« sollte sich schon bald als Trugschluss erweisen. Die Seifenblase platzte in der Nacht vom 9. auf den 10. November.
Der Nazi-Zynismus prägte für das Pogrom den verharmlosenden Begriff »Reichskristallnacht«. In den Glasscherben der Synagogen, Wohnhäuser und Geschäfte spiegelte sich eine zerstörte jüdische
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