Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
geöffnet wurde und in dieser ein Gesicht erschien. Was er denn um Himmels willen mitten in der Nacht hier wolle, fragte der Vollzugsbeamte mürrisch. David antwortete, er suche seine Ehefrau: fünfunddreißig, einen Meter achtundsechzig groß, schlank, schwarze naturgewellte Haare, dunkle Augen…
Wie er sich das alles eigentlich vorstelle, herrschte der Wachmann seinen nächtlichen Besucher an. Auskünfte würden ausschließlich zwischen acht und zwölf sowie zwischen vierzehn und sechzehn Uhr erteilt. Und nun solle er machen, dass er fortkomme, sonst bekäme er noch ein Nachtquartier in diesem Etablissement verpasst. Das wäre ihm sogar sehr recht, antwortete David. Die Klappe flog zu und die Schritte des Beamten entfernten sich wieder.
David klingelte noch ungefähr zehn Minuten lang ununterbrochen, aber das Gesicht im Guckloch tauchte nicht wieder auf.
Deprimiert kehrte er zum Taxi zurück.
»Bringen Sie mich bitte in die Lange Straße in St. Pauli.«
Erst als David vor Ferdis Wohnung ausgestiegen und das Taxi fortgefahren war, kam ihm der Gedanke, dass eine Rückkehr in die Wohnung gefährlich sein konnte. Vorher hatte er sich noch absetzen können, aber wenn Ferdinands Behausung tatsächlich observiert wurde, tappte er jetzt vielleicht gerade in eine Falle.
Etwa eine Minute lang stand er wie ein Nachtschwärmer vor der Haustür und schwankte – einen Zechbruder mimend, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Dann fiel ihm sein »Schatzkoffer« ein mit den vielen – zwar sorgsam verschlüsselten, dennoch aber wertvollen – Hinweisen, mit dem Diarium seines Vaters, Jasons Träne und dem Abschiedsbrief von Johannes Nogielsky…
Entschlossen steckte er den Hausschlüssel in die Tür und trat ein. Die Flurbeleuchtung ließ er ausgeschaltet. Im Dunkeln schlich er sich die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf, was wegen der knarrenden Stufen nicht völlig geräuschlos zu bewerkstelligen war.
Die Wohnungstür hing nur noch halb in den Angeln. Von den Fenstern fiel das Licht der Straßenbeleuchtung herein. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Rebekka hatte also auf ihn gehört. Sie mussten die Tür kurzerhand eingetreten haben.
In Ferdis Wohnung selbst sah es aus, als habe eine Granate eingeschlagen. Kleidungsstücke mischten sich mit dem Inhalt von Schubladen, in der Küche lag zerbrochenes Geschirr am Boden, aber von dem Lederkoffer, der Davids wertvollste Schätze barg, fehlte jede Spur.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es kam von unten, von der Haustür her. Das Licht im Treppenhaus wurde eingeschaltet und eine Stimme schien im Befehlston Anweisungen zu geben… Also doch eine Falle!
Vielleicht aber auch nur eine Routineuntersuchung. David musste sich entscheiden. Blitzschnell! In der Wohnung gab es kein Versteck. Also lief er auf den Flur hinaus. Von unten waren Schritte zu hören. Als er vorsichtig zwischen dem Treppengeländer hindurchlugte, sah er aus Uniformärmeln ragende Hände sich eilig nach oben arbeiten.
So leise es ging, hastete David zum Dachboden empor. Das war die einzige Möglichkeit. Schnell öffnete er die Tür: ein verräterisches Knarren. Er lauschte. Niemand schien auf das Geräusch aufmerksam geworden zu sein. Das Knarzen der Treppen unter den emporstürmenden Stiefeln hatte es vermutlich übertönt. Rasch schlüpfte er in den dunklen Raum und schob die Tür wieder ins Schloss.
Er blieb lauschend stehen. Leider konnte er in der Nacht auch nicht mehr erkennen als jeder andere normale Mensch. Wenn er sich im Dunkeln bewegte, war er zwar dank seiner Sekundenprophetie imstande, Hindernissen auszuweichen, aber deshalb wusste er noch lange nicht, wie es in einem finsteren Raum aussah und wo sich vielleicht eine Leiter zum Dach befand. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich so still wie möglich zu verhalten und zu hoffen…
Nein! Sie kamen die Treppe herauf. Die Verfolger mussten nicht Acht geben. Ihre Stiefel machten auf den Stufen einen Lärm, als wäre die gesamte altpreußische Kavallerie unterwegs. Schnell trat David einen Schritt zurück. Einmal mehr setzte sein Herz aus, als er mit dem Hacken gegen etwas stieß, was da in der Dunkelheit auf dem Boden gelauert hatte. Vielleicht eine Kiste. Auf jeden Fall hatten seine nach vorn, auf die Häscher gerichteten Sinne diesen geräuschvollen Zusammenstoß nicht eingeplant.
Die Tür flog auf und kam erst an Davids Fußspitzen wieder zum Stehen. Im Spalt zwischen den beiden Scharnieren sah er eine schwarze Uniform
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