Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
vielleicht auch meine Frau umbringen, nachdem Sie hier Ihre Pflicht getan…?«
Mit einem Mal drängte sich ein schrecklicher Gedanke in Davids Bewusstsein. Was, wenn dieses Scheusal jemand anderen damit beauftragt hatte, Rebekka zu töten? Sein Blick wanderte zu der Pistole am Boden. Scarellis Zeigefinger lag gleich daneben. War da nicht ein goldener Schimmer? David bedeutete dem Mönch mit der Schwertspitze, sich nicht zu rühren. Rückwärts gehend näherte er sich langsam der Waffe, bückte sich und steckte sie in die Manteltasche. Die Augen des Jesuiten funkelten im Zwielicht, als David sich dann dem Finger zuwandte, um ihn genauer zu untersuchen. Im Großen Krieg hatte er viele herrenlose Gliedmaßen gesehen. Aber das lag zwanzig Jahre zurück. Bevor er das Ding anfasste, wollte er sicher gehen, dass dieses metallische Glitzern wirklich von einem bestimmten Gegenstand herrührte. Notgedrungen musste er dazu den Blick von dem Mönch nehmen.
Er ging in die Hocke, zwang seinen Ekel nieder und beäugte den Zeigefinger genauer. Da schimmerte zwar ein frei liegender Knochen, aber dicht daneben steckte tatsächlich auch ein Ring! Davids Herzschlag wurde schneller. Auf der Suche nach einer Schiffspassage war er hergekommen und gefunden hatte er ein Mitglied des Kreises der Dämmerung! Schnell legte er das Kurzschwert zur Seite, um den Sigelring einfach aus dem ledernen Fingerling zu drücken. In diesem Augenblick vermeintlicher Unaufmerksamkeit wagte der Jesuit seinen zweiten Angriff.
Es ging alles ganz schnell. Bevor der Schuss aus einer anderen, kleineren Waffe sich ganz gelöst hatte, gellte er David bereits in den Ohren. Aber ihm blieb keine Zeit mehr, die Pistole zu fixieren und einfach die Kugel zu verlangsamen. Im letzten Moment riss er die Linke wie zur Abwehr nach oben und schrie: »Steh!«
Auch ohne die Geste und den Befehl wäre passiert, was er bis jetzt immer vermieden hatte: Der Jesuit – ein lebender Mensch – wurde für den Bruchteil einer Sekunde dem Schwerefeld der Erde entrissen. Wie von einer Kanonenkugel geschossen flog er hierauf samt der abgefeuerten Pistolenkugel gegen die Backsteinwand am Ende der Halle.
Mit dem Krachen einer explodierenden Granate prallte er auf David hatte sich noch rechtzeitig in einen der Quergänge werfen und hinter einem der Kistenberge abrollen können. So fand er Deckung vor den von der Wand zurückspritzenden Überresten des Jesuiten.
Einige Sekunden lang kauerte David einfach nur da, die Augen geschlossen, und versuchte das Bild aus seinem Geist zu verdrängen. Warum nur hatte der Jesuit ihn dazu gezwungen? Der Gedanke an Rebekka ließ allerdings seine Entsetzensstarre schnell wieder weichen.
Er wollte schon loslaufen, als ihm der Ring einfiel. Rasch sprang er über den wie von Nieselregen schlüpfrigen Boden, hob kurz entschlossen den Zeigefinger auf und befreite ihn von dem Ring. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war wirklich einer der zwölf, die sein Vater zum ersten Mal vor siebenundfünfzig Jahren in einem Haus in Kent gesehen hatte.
Er bückte sich noch nach dem wakizashi und warf schaudernd einen letzten Blick auf die feucht glänzende Backsteinwand. Dort, wo Antonio Scarellis Körper aufgetroffen war, befand sich jetzt ein etwa kürbisgroßes Loch. Diesmal würde Rasputin nicht wieder auferstehen.
David wandte sich um und verließ die Halle. Einige Gänge weiter warf er den Finger und die Pistole in einen Kanal. Niemand würde je herausfinden, wer in dieser Nacht im Speicher ums Leben gekommen war und welche gewaltigen Mächte sein Ende herbeigeführt hatten.
Im Dauerlauf rannte David durch die Stadt. Es war kurz vor halb zwölf. Endlich entdeckte er ein Taxi. Der Fahrer hatte sein Winken und die Pfiffe nicht bemerkt, aber David ließ den Wagen einfach langsamer fahren, bis er ihn eingeholt hatte. Er sprang in das Auto und befahl den konsternierten Chauffeur in die Lange Straße.
Ungeduldig wippte er auf dem Rücksitz, ignorierte jeden Versuch des Taxifahrers, ihn in ein Gespräch über bockende Automobile zu verwickeln. Er wollte nur zu Rebekka. Auch sie kannte den Jahrhundertplan. Belial würde keinen zweitklassigen Meuchelmörder zu ihr schicken.
Endlich hielt das Taxi vor dem Haus. Mehrere Leute standen davor und sprachen aufgeregt miteinander. Irgendetwas stimmte nicht.
David warf dem Fahrer eine viel zu große Banknote zu und stürzte auf den Gehweg.
»Was ist geschehen?«, fragte er den Erstbesten, einen fast kahlköpfigen
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