Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
»schwarzen Tage der Wallstreet« verschonten auch David und Rebekka nicht. Das einstige Camden-Vermögen, zusammen mit dem Nachlass von William H. Rifkind, bestand größtenteils aus Wertpapieren. Seinerzeit hatte David diese Anlageform bewusst gewählt, weil er unter wechselnden Namen jederzeit schnell und unkompliziert über seine Mittel verfügen wollte. Das wurde ihm nun beinahe zum Verhängnis. Praktisch alle Beteiligungspapiere hatten ihren Wert verloren.
Er hatte sich nie viel für Wirtschaftsfragen interessiert. Wenn er Geld brauchte, dann war es einfach da gewesen. Nicht zuletzt für den Kampf gegen den Kreis der Dämmerung hatte er in seinem finanziellen Rückhalt eine starke Stütze gesehen. Doch nun war diese über Nacht weggebrochen.
Marie bot den Kindern großzügig ihre Hilfe an. Sie machte sich weniger als die meisten anderen Sorgen um ihre Zukunft: Kranke würde es immer geben und auch Patienten, die einen Arzt für seine Dienste entlohnten. Einige Tage lang war David so deprimiert, dass er jeden Versuch aufgab, eine Wohnung für sich und Rebekka zu finden. Wenigstens stand er nicht völlig mittellos da. Er besaß noch immer einige Immobilien. In der Schweiz verfügte er zudem über ein kleines Golddepot. Doch mit diesem Vermögen würde er fortan haushalten müssen. Schließlich stand ihm noch ein siebzigjähriges Leben bevor, siebzig Jahre Suche nach dem mächtigen Kreis der Dämmerung. Und schon seit langem gehörte die Großwildjagd eher zum Zeitvertreib der betuchteren Leute.
»In den Staaten sollen sich viele das Leben genommen haben«, sagte Rebekka mit halb vollem Mund an einem Morgen im November. Die Seine sah an diesem wolkenverhangenen Mittwoch grau aus. Am gegenüberliegenden Ufer bannte nicht ein einziger Maler die Silhouette von Notre-Dame auf seinen Zeichenblock.
»So ist es, wenn man sein ganzes Vertrauen auf Geld setzt«, antwortete Marie, bevor sie sich an David wandte. »Noch eine Tasse Tee, mein Sohn?«
»Danke, nein. Seit einigen Tagen fehlt mir irgendwie der Appetit.«
»Du scheinst wirklich noch dünner geworden zu sein, als du es ohnehin schon warst. Macht euch nicht solche Sorgen um das verlorene Geld, Kinder. Ihr habt immer noch einander und Gott als Dritten in eurem Bunde. Das sollte euch ein wenig mehr Zuversicht geben.«
David drückte Maries Hand und lächelte sie an. Sie kannte inzwischen einen Großteil seiner Lebensgeschichte. Deshalb konnte er offen sprechen. »Der Verlust meines Vermögens macht mir gar nicht so sehr zu schaffen. Solange ich arbeiten kann, werden wir auch nicht hungern. Selbst ohne feste Beschäftigung könnte ich uns für die nächsten Jahre noch ein einfaches Auskommen sichern. Was mir Sorgen bereitet, ist meine Aufgabe, meine Bestimmung. Die erfordert erheblich größere Finanzmittel. Wie soll ich nur den Kreis der Dämmerung über den Globus jagen, wenn ich bald nicht einmal das Geld für eine Dritte-Klasse-Fahrkarte habe?«
»Das sagte ich doch bereits, David: mit ein wenig mehr Gottvertrauen.«
»Eigentlich hat Mutter Recht«, schlug nun auch Rebekka in dieselbe Kerbe. »Überleg doch einmal, David: Du warst nie allein. Immer hat uns jemand geholfen.
Zuletzt waren es Hank McMillan, Henry Luce und Mama.«
»Es wundert mich, dass du so schnell zu deinem Glauben zurückgefunden hast«, sagte David und entzog Marie die Hand. Seine Stimme klang abweisender als beabsichtigt. Er fühlte sich irgendwie betrogen. Gerade noch hatte er diesen grandiosen Streich gegen Kelippoth geführt und nun das! Die Weltwirtschaftskrise kam ihm wie eine zynische Erwiderung Lord Belials vor. Was hatte ihm Negromanus zum Abschied im Haus der Yonais zugerufen? Glaube mir, du wirst noch meine wahre Macht zu spüren bekommen. War der Zirkel mächtig genug, um eine solche Katastrophe auszulösen? Destabilisierung ist das Zauberwort! Mit dieser knappen Formel hatte der Schattenlord einmal den Weg zur Verwirklichung des Jahrhundertplans umrissen. Wer wollte bezweifeln, dass die Welt gerade mit jedem Tag mehr aus den Fugen geriet?
David seufzte. All das konnte er weder Rebekka noch Marie anlasten. »Entschuldige, Schatz. Meine Nerven! Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Zwar verachte ich die religiösen Führer, die ihren heiligen Schriften zuwiderhandeln und ihre Gläubigen in Armut und Tod treiben, aber ich respektiere jeden, der seinen Glauben ernst nimmt. Manchmal frage ich mich ja selbst, warum ich all diese sonderbaren Gaben besitze. Bin ich Teil
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