Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
war Nicolas Jeremiah Seymour an seiner Seite gewesen, der Schulfreund, der den Großen Krieg nicht überleben sollte. Die Welt hatte sich seitdem verändert. Heute ging Rebekka neben ihm, eine werdende Mutter, für David die Verkörperung einer glücklicheren Zukunft.
Mit dem Zug fuhren sie knapp zwei Stunden später nach Paris weiter. Als sie dann am Abend vor dem Haus Nummer vierzehn am Quai d’Orleans aus dem Taxi stiegen, erreichte Rebekkas Begeisterung ihren Höhepunkt. Endlich zu Hause!
Noch bevor das umfangreiche Gepäck ausgeladen war, kam schon Marie Rosenbaum aus dem Haus gestürzt. Sie hatte sich kaum verändert. Obwohl Rebekkas Mutter bereits auf die fünfzig zuging, glänzten nur wenige silberne Strähnen in ihrem hochgesteckten dunklen Haar. Sie war noch immer eine sehr attraktive Frau.
»Als ich euer Schiffstelegramm bekommen habe, war ich ganz aus dem Häuschen«, gestand sie mit Tränen in den Augen. Sie küsste erst ihre Tochter, dann nahm sie Davids Gesicht in die Hände und musterte es wie eine antike Büste. »Du siehst irgendwie verändert aus, David.«
Der musste lächeln. »Vielleicht liegt das an meiner Haarfarbe.«
»Stimmt! Damals waren deine Haare weiß und jetzt sind sie braun – du bist jünger geworden!«
»Mama«, beschwerte sich Rebekka. »Kaum hier, machst du dich schon wieder über meinen Mann lustig.«
Marie lachte glockenhell – ganz Rebekkas Mutter. »Was heißt hier ›wieder‹. Damals war David nur ein Kandidat unter vielen – wenn ich auch gestehen muss, ein ziemlich aussichtsreicher –, aber heute ist er mein Sohn.«
»Wenn das eine Aufforderung sein soll, Mama zu dir zu sagen, dann nehme ich sie gerne an«, meinte David lächelnd. Er freute sich über das glückliche Strahlen in den Augen der beiden Frauen.
»Oh!« Marie musste laut auflachen. »Ich werde zum zweiten Mal Mutter! Mit sechsundvierzig!« Sie zog rasch den Kopf zwischen die Schultern und hielt die Hand vor den Mund. »Das hätte ich wohl jetzt nicht verraten dürfen.«
»Viel wichtiger ist, dass du bald Großmutter sein wirst«, sagte Rebekka.
Maries dunkle Augen wurden riesengroß. »Was? Soll das etwa heißen…?«
Rebekka strahlte wie ein Honigkuchenpferd und David nickte mit dem Stolz des werdenden Vaters.
Inzwischen waren an den Fenstern der reich verzierten Fassade mehrere Gesichter erschienen. Das Jauchzen und Lachen auf der Straße hatte Aufmerksamkeit erregt. David überredete den Taxifahrer durch ein dickes Trinkgeld dazu, die Koffer und Taschen ins Haus zu schaffen. Weiteres Gepäck würde später noch folgen.
Marie Rosenbaum bewohnte die unteren beiden Etagen eines noblen Pariser Stadthauses, das sich auf einer Insel der Seine im Schatten von Notre Dame befand. Die gewaltige Kathedrale stand auf der größeren Nachbarinsel, die sich über eine kleine Brücke erreichen ließ.
Rebekka hatte ihre Jugendtage in Paris an der Place d’Aligre, unweit des Hôpital St. Antoine verlebt. Das jetzige Domizil von Dr. Marie Rosenbaum war dagegen ungleich vornehmer. Sie konnte es sich leisten. Auch in den ausgehenden Zwanziger Jahren war es nämlich keineswegs normal, dass eine Frau als Ärztin ihren Mann stand, noch dazu mit einer eigenen Praxis.
Nach dem Krieg war Marie es leid gewesen, abgerissene Gliedmaßen und aufgeschlitzte Leiber zusammenzuflicken. Deshalb hatte sie sich auf die Gynäkologie spezialisiert. Damals ahnte sie noch nicht, wie sehr viele ihrer Geschlechtsgenossinnen diesen Entschluss einmal begrüßen würden. Denen war nämlich wegen der verbreiteten Prüderie oftmals jede ärztliche Hilfe schlichtweg versagt geblieben. Wenn selbst der eigene Mann nur im Dunkeln und unter der Bettdecke den Intimbereich seiner Frau erforschen durfte, dann gehörten derartige Einblicke für Fremde – ob Arzt oder nicht – zu den absoluten Tabus. Einer Frau dagegen vertrauten sich die schamhaften Patientinnen schon eher an. Gerade die Damen der gehobenen Gesellschaft setzten sich zunehmend selbstbewusst gegen ihre echauffierten Gatten durch und konsultierten standhaft »ihre« Frau Dr. Rosenbaum – und das nicht nur in medizinischen Fragen.
Auf diese Weise war Rebekkas Mutter in den letzten Jahren zu Ansehen und Wohlstand gelangt. Am deutlichsten konnte man dies an ihrer großzügigen Praxis im Erdgeschoss des noblen Stadthauses auf der Seine-Insel erkennen. Doch abgesehen von diesen Äußerlichkeiten hatte sie sich für David kaum verändert. Er wusste aus Briefen, dass sie Frauen aller
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