Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
wenn er nicht rechtzeitig zu ihr zurückkehrte, würde sie ohne ihn Rom verlassen. Zwar blieben bis dahin noch fast sechs Stunden, aber er kannte seine Frau – Rebekkas Furcht würde mit jeder Minute des Wartens zunehmen. Er musste schnell einen Ausweg finden.
Mit einem Mal stand David unter der riesigen Kuppel der Kirche und blickte zu den Mosaiken und goldenen Verzierungen hinauf. Schon in der Westminster Abbey war er sich klein vorgekommen, aber hier, unter dem fast einhundertzwanzig Meter über ihm schwebenden Runddach schien er zu einem winzigen Punkt zu schrumpfen. Der Anblick erfüllte ihn mit einer seltsamen Unruhe – wie sollte er hier einen klaren Gedanken fassen? – und ließ ihn fluchtartig einen weniger einschüchternden Winkel aufsuchen.
Nachdenklich blieb er vor einer dunklen Bronzestatue stehen, ein sitzender Mann mit Heiligenschein, der einen auffallend blanken rechten Fuß vorstreckte. Gleich darauf klärte sich das Rätsel des spiegelnden Körperteils. Ein Gläubiger näherte sich ehrfürchtig der Statue, küsste die exponierten Zehen, bekreuzigte sich und zog sich wieder zurück. Jetzt fiel es David wieder ein. Die Bronzestatue stellte den heiligen Petrus dar.
»Ein merkwürdiger Brauch, nicht wahr?«
David zuckte zusammen. Der seltsame Akt der Zehenpolitur hatte ihn nur einen Augenblick lang abgelenkt und ausgerechnet in diesem Moment war er überrascht worden. Sein Herz schien stillzustehen, als er sich mit steifem Hals zu der dunklen Gestalt am Rand seines Gesichtskreises umdrehte.
Erleichtert atmete er auf. Es war nur ein junger Mönch in brauner Kutte, der da an seiner Seite das Treiben der Zehenversessenen verfolgte.
Der Ordensbruder machte ein besorgtes Gesicht. »Entschuldigen Sie, habe ich Sie etwa erschreckt?«
David lächelte gequält und antwortete auf Italienisch: »Nicht der Rede wert. Ich war nur gerade in Gedanken.«
»Den Gläubigen bedeutet dieser Brauch sehr viel«, sagte der Mönch mit einem ironischen Unterton in der Stimme. »Seit Pius IX. Mitte des letzten Jahrhunderts jedem Küsser einen fünfzigtägigen Ablass garantierte, muss der heilige Petrus sich nie mehr die Füße waschen.«
»Weiß der Papst eigentlich, wie…«, angestrengt suchte David nach den passenden Worten, »respektlos Sie über die Inneneinrichtung seiner Hauptkirche reden?«
Der Ordensbruder lächelte geheimnisvoll. »Der Heilige Vater hat seine Ohren überall. Möglich wäre es.«
»Ich habe einmal irgendwo gelesen, die Bronze für diese Statue soll von einem Jupiter-Standbild genommen worden sein. Wenn das stimmt, kann ich Ihr distanziertes Verhältnis zu dem Heiligenbild verstehen.«
»Das ist wohl nur eine Legende«, antwortete der Mönch lachend. Er war in etwa von Davids Statur, ein wenig kleiner vielleicht, besaß dichtes schwarzes Haar und wirkte jetzt wie ein großer Junge nach einem gelungenen Streich. »Neuerdings glaubt man, die Bronzestatue stamme erst aus dem dreizehnten Jahrhundert. Sie sind wohl kein Katholik?«
»Wie haben Sie das so schnell erkannt?«
»War nur so eine Vermutung. Aus welchem Land kommen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Das ist schwer zu beantworten. Ich bin Reporter, reise durch die ganze Welt und schreibe für Time.«
»Das amerikanische Magazin!« Der Mönch schob die Unterlippe vor und nickte anerkennend. »Alle Achtung! Dann sind Sie wohl ein Mann mit einem Auge für das Wesentliche.«
»Wie man’s nimmt. Ich versuche der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.«
In den Augen des Italieners entstand ein Leuchten. Nur zu gut kannte David dieses Phänomen, das man leicht mit Bewunderung verwechseln konnte. Unbewusst hatte er die Wahrhaftigkeit aus seiner Stimme sprechen lassen und dieser junge Mann schien offenbar für sie sehr empfänglich zu sein. David hatte eine Idee.
»Sagen Sie, gibt es in dieser Kirche auch einen Hinterausgang?«
Die Frage schien den Ordensbruder zu belustigen. »An diesem Gotteshaus wurde einhundertzwanzig Jahre lang gebaut. Es wäre doch sehr verwunderlich, wenn man in dieser Zeit bloß eine einzige Tür zustande gebracht hätte. Sie sind nicht zufällig ein Kunstdieb auf der Flucht?«
»Keine Sorge. Es gibt nur da draußen auf dem Petersplatz einen Mann, dem ich ungern begegnen möchte.«
»Mafia?«
»Jesuit.«
»Gott bewahre! Manche behaupten, das wäre noch viel schlimmer. Omnia ad maiorem Dei gloriam, versteht sich.«
David stutzte. »Ich fürchte, mein Latein ist etwas eingerostet.«
»Alles zur größeren Ehre
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