Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
dieser Zeit besitzen Wir nützliche Kenntnisse über die umfangreichen Bestände dort. Die von Uns erwähnte Sammlung hat ihren Ursprung allerdings nicht in Italien. Dennoch ist sie die Bibliotheca Palatina schlechthin.«
»Und warum befindet sie sich dann hier?« Soeben war die Tür zu etwas Wichtigem aufgestoßen worden, David spürte es ganz deutlich.
Pius lachte und deutete zum Petersplatz hinab. »Warum steht der Obelisk dort unten auf der Piazza? Weil ihn jemand geklaut hat.«
Die Wortwahl des Kirchenoberhauptes ließ selbst Lorenzo Di Marco die Stirn runzeln.
»Ihr meint«, fragte David, »die Sammlung sei gestohlen worden?«
»Genau genommen war sie Kriegsbeute. Die Bibliotheca Palatina verdankt ihre Entstehung eigentlich Kurfürst Ottheinrich. Er wohnte in Heidelberg während der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts und war ein leidenschaftlicher Büchersammler. In seinem Testament verfügte er die Zusammenführung mehrerer getrennter Bestände in der Heiliggeistkirche. Damit legte er den Grundstein zu einer der bedeutendsten Bibliotheken nördlich der Alpen. Die Palatina umfasste damals nicht weniger als dreitausendfünfhundert Hand- und dreizehntausend Druckschriften. Diese Zahl mag Ihm angesichts der immensen Größe heutiger Bibliotheken gering erscheinen, doch der eigentliche Wert der Palatina lag auch weniger in der Menge ihrer Werke als vielmehr in deren Qualität. So manches Unikat befand sich in der Sammlung, außerdem kostbare Stücke wie der Codex Manesse, die ›Große Heidelberger Liederhandschrift‹, und andere bedeutende deutsche, lateinische und griechische Werke. Aber dann zettelten die Protestanten diesen unsäglichen Dreißigjährigen Krieg an, Tilly eroberte Heidelberg und der siegreiche bayerische Herzog Maximilian schenkte die Palatina später Papst Gregor XV.«
David nickte. »Und so kam die Bibliothek nach Rom.«
»In einhundertsechsundneunzig Kisten, um genau zu sein. Mich hat ihre Geschichte immer fasziniert. Seit 1623 gehört die Bibliothek hier zur Sammlung der Stampati Palatini. Jedenfalls das meiste davon.«
David hob fragend die Augenbrauen.
»Teile der Palatina sind später auch an andere Orte verbracht worden, unter anderem nach Paris. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gab Pius VII. dem Drängen der Heidelberger Universität nach und so gelangten etwa achthundertfünfzig deutschsprachige Handschriften wieder zurück an den Neckar. Es sollen sich inzwischen auch lateinische und griechische Werke aus dem Pariser Bestand wieder in Heidelberg befinden.« Pius lächelte zufrieden, wohl wie in alten Zeiten, wenn er seinen Studenten in Mailand einen besonders schwierigen Sachverhalt näher gebracht hatte. »Ist Seine Frage damit beantwortet?«
»Ja, danke.« Tausende weiterer Bücher und Handschriften! Wie ein Goldsucher hatte David schon in vielen Bibliotheken den Wissensstand von Jahrhunderten gewaschen und bisher nur wenige Krümel Gold gefunden. Aber wenn Briton Hadden auf dem Sterbebett wirklich von der Bibliotheca Palatina gesprochen hatte, dann durfte er diesen Hinweis nicht ignorieren. Er blickte den Papst aus seinen strahlend blauen Augen an und fragte: »Ist die Sammlung für Außenstehende zugänglich?«
»Will Er damit fragen, ob sie Ihm offen stehen würde?«
»Nun, eigentlich schon.«
Pius lachte. »Ja, meint Er denn, der Vatikan sei eine öffentliche Leihbibliothek? Gleichwohl, mit Unserer Erlaubnis darf Er wie andere Gelehrte auch in den Sammlungen forschen – natürlich nicht uneingeschränkt, wie Er sich denken kann. Die Archive des Vatikans enthalten vielleicht die kostbarsten, aber auch die geheimsten Schriften, die je von Menschenhand erstellt wurden. So ziemlich das Einzige, was uns hier noch fehlt, sind Moses’ Steintafeln mit den Zehn Geboten.«
»Irgendwann bekommen wir die auch noch«, sagte Lorenzo Di Marco, ohne eine Miene zu verziehen.
Pius warf ihm einen irritierten Seitenblick zu, dann wandte er sich wieder an David. »Frater Lorenzo wird alles Erforderliche veranlassen, damit Er Zutritt zu den Vatikanischen Archiven bekommt, sollte Er es wünschen. Wir freuen Uns, Unserem Dank für Seine mutige Tat und für das geistvolle Gespräch auf diese Weise Ausdruck verleihen zu können. Den Orden werdet Ihr demnächst erhalten, wenn die notwendigen Formalitäten erledigt sind.«
Jetzt, da sich die Audienz mit Riesenschritten ihrem Ende näherte, fiel David siedend heiß sein Versäumnis ein. Er lächelte bescheiden und sagte rasch: »Ihr seid
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