Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Dienern, damit wir die Zeit besiegen, ihn im Lichte der Tränen rufen und er uns beherrschen kann. Doch der, den er selbst behielt, ist mächtiger als alle anderen. Wird er in Gegenwart des Fürsten zerstört, so kann das Böse gebannt und das im Ring eingeschlossene Gute befreit werden. Doch der Meister wird ihn niemals vom Finger streifen, es sei denn, er will seinen unheimlichen Helfer herbeirufen, den jeder von uns fürchtet. Dies nun sind die Geheimnisse der Ringe: Zerstörst du einen der elf, vergeht auch dessen Besitzer und die Lebensspannen der übrigen Brüder werden um den zwölften Teil verkürzt. Vernichtest du jedoch den Fürstenring, sterben alle Ringträger in einem Nu. Weil ich um mein eigenes Leben fürchten muss, will ich nun auch das letzte Geheimnis preisgeben, das offenbart, wie man Fürst Belial mit einem der Ringe herbeirufen und den mächtigsten der Ringe zerstören kann…
»Was ist?«, fragte Rebekka den Bibliothekar, der plötzlich mit dem Übersetzen aufgehört hatte.
David ahnte es bereits. Seine Hand lag auf der Brust, über dem »Fürstenring« unter seinem Hemd. Das im Ring eingeschlossene Gute, wiederholte er in Gedanken. Dann hatten sich die Kabbalisten ihre »Scherben des Bösen« also doch nicht ganz aus den Fingern gesogen. Theosophen wie Blavatsky und Steiner hatten sich von ihnen inspirieren lassen und mystische Pfade betreten, um die Geheimnisse der Welt zu lüften. Möglicherweise waren sie zu diesem Zweck sogar einen zweifelhaften Handel mit Belial eingegangen, ebenso wie Goethes Faust mit Mephisto.
Durch Jasons Geschichte bekamen viele von David gesammelte Mosaiksteinchen plötzlich einen Sinn. Das Bild wurde immer klarer. Es zeigte ihm nicht nur das Szenario einer gewaltigen, Jahrtausende alten Verschwörung, sondern auch zum ersten Mal einen vielleicht gangbaren Weg zur Rettung. Die zwölf Ringe waren ein Mittel der Macht für Belial und seine Logenbrüder, genauso auch wie eine Möglichkeit zu deren Vernichtung vonseiten anderer.
Man musste nur noch wissen, wie sich der Schattenlord herbeirufen und der Fürstenring zerstören ließ. Einmal, als David das Schmuckstück eingehender untersucht hatte, war es ihm auf das Straßenpflaster gefallen. Er hatte es wieder aufgehoben und verblüfft festgestellt, dass seine Oberfläche nicht den geringsten Kratzer aufwies. Daraufhin schrammte er das Gold absichtlich über den rauen Stein. Doch der Ring bewahrte beinahe trotzig seinen kühlen Glanz.
Jetzt erinnerte sich David wieder an dieses »Experiment«, während die Worte von Jasons Geschichte in sein Gedächtnis Eingang fanden. Er war vor Spannung wie erstarrt, als Fresenius auf Rebekkas Frage die befürchtete Antwort gab.
»Hier endet der Text. Wie gesagt, Jason muss gestorben sein, bevor er das ganze Geheimnis lüften konnte.«
Vermutlich mit einem auf groteske Weise verkrümmten Rücken. David musste sich erst einmal sammeln, bevor er dann im Stande war zu fragen: »Was könnte dieser Jason damit gemeint haben, als er schrieb, man könne den Fürsten ›im Lichte der Tränen rufen‹?«
Erneut das Kratzen am Ellenbogen. Fresenius erwiderte Davids Blick, lächelte verlegen, verzog wie unter Schmerzen das Gesicht und sagte schließlich ausdruckslos: »Ich weiß es nicht.«
David kämpfte gegen die Enttäuschung an. »Aber Sie haben sich doch lange mit alten Texten beschäftigt, Sie müssen doch wenigstens eine Ahnung haben.«
Fresenius wurde mit einem Mal sehr geschäftig. Mit kundigen Griffen legte er die Pergamentbogen aufeinander, um sie wieder in der sicheren Hülle der Pappdeckel einzuschnüren. Ohne aufzuschauen, sagte er: »Ahnen kann man viel. Nur hilft es einem wenig, wenn keine der Vermutungen irgendeinen Sinn ergibt.«
»Welche Alternativen gäbe es denn?«
»Was weiß ich! Tränen – das könnte eine Stimmung sein, ekstatische Verzückung oder auch meditative Traurigkeit.«
»Und wenn es nichts mit Gefühlen zu tun hat?«
»Auch darüber habe ich mir schon den Kopf zerbrochen. Tränen bestehen aus Wasser. Sie sind salzig wie das Meer. Und klar wie Glas. Sie dürfen sich etwas aussuchen, Herr Pratt.«
David konnte die Ratlosigkeit des Bibliothekars gut verstehen. Eher aus Verlegenheit sagte er: »Haben die Griechen zur Zeit Alexanders des Großen denn schon Glas gekannt?«
Fresenius sah ihn verdattert an. »Ehrlich gesagt kann ich Ihnen das gar nicht beantworten. Aber es müsste ja leicht herauszufinden sein.«
»Sollte allerdings Jasons
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