Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
erreichen galt: die Beschaffung einer neuen Wohnung. Sie wollten nichts Pompöses – ihre Geldmittel waren ohnehin beschränkt, doch für Rebekka sollte es endlich ein richtiges Zuhause sein.
Am Anhalter Bahnhof bestieg das Paar ein Taxi. Als der Chauffeur das Gepäck verstaut hatte und nach dem Ziel fragte, war David einen Moment ratlos, aber dann fiel ihm ein Name ein.
»Bringen Sie uns bitte zur Neuen Welt.«
Der Taxifahrer quittierte die Anweisung mit einem zackigen »Is’ jut«, setzte seinen schwarzen Mercedes in Bewegung und reihte sich zügig in den fließenden Verkehr Richtung Süden ein.
Auf der Fahrt durch Kreuzberg präzisierte David seinen Wunsch. Er suche eine Pension oder ein gemütliches kleines Hotel nahe des besagten Versammlungssaals. »Keen Problem«, antwortete der Chauffeur und machte sofort eine Reihe von Vorschlägen.
Es dauerte nicht lange und der Wagen rollte bei einem Haus in der Wissmannstraße vor, die sich gleich hinter der Neuen Welt befand. Der Fahrer sprang aus dem Wagen und in das Gebäude. Wenig später kehrte er mit einer korpulenten Frau Ende vierzig zurück, die sich als Gertrud Kranewitz vorstellte und ihrer Freude Ausdruck verlieh, die beiden Logiergäste bei sich aufnehmen zu können.
Die Pension Tannengrün belegte die ersten beiden Stockwerke des insgesamt viergeschossigen Hauses. Sie bot genügend Raum und Komfort, bis David und Rebekka in eine eigene Wohnung umziehen konnten. Eine solche binnen kurzem aufzuspüren war das Kunststück, dem sich David nun widmete. Er ging die Sache generalstabsmäßig an. Gleich nach der Ankunft kaufte er stapelweise Zeitungen und vertiefte sich in das Studium der Anzeigen. Nur unter Androhung von Folter (er war kitzelig) konnte ihn Rebekka hier und da zu »strategischen Spaziergängen« im benachbarten Volkspark Hasenheide, einem ehemaligen Schießübungsplatz, überreden.
Nach vier Tagen schwärmte das Paar mit einer Liste von Adressen in die nähere Umgebung der Hasenheide aus. Hier, wo die Bezirke Kreuzberg und Neukölln aufeinander trafen, wohnten nicht so sehr die Reichen und Schönen der Stadt (schon gar nicht jene, die sich dafür hielten), sondern hauptsächlich Arbeiter, kleinere Gewerbetreibende – und Arbeitslose. Ihr Heer wurde mit jedem Monat größer.
Auf Schritt und Tritt wurden David und Rebekka mit den katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise konfrontiert. Vor den Garküchen der Wohlfahrt mussten sie sich an Schlangen von Menschen vorbeidrängen, die dort für eine warme Mahlzeit anstanden. Andere Erwerbslose hatten sich als wandelnde Sandwiches verkleidet, eingeklemmt zwischen großen Plakaten trugen sie ihr dringendstes Anliegen zur Schau: »Ich suche Arbeit.« So mancher konnte seine Miete nicht mehr zahlen. Und dadurch wurden Wohnungen frei. Für David war es kein angenehmer Gedanke, womöglich in die Räume einer Familie zu ziehen, die sich nun mit einer lichtlosen Hinterhofbude in Wedding oder am Prenzlauer Berg begnügen musste.
Die ersten beiden Wohnungen sagten dem Paar nicht zu. Dann besichtigten sie eine Zimmerflucht am Richardplatz, dem historischen Herzen Neuköllns. Hier, im Haus Nummer 4, war im Parterre eine Wohnung mit sechs Räumen frei geworden, eigentlich viel zu groß für das Paar, aber die Miete erschien erschwinglich und Rebekka verliebte sich sofort in die hellen hohen Zimmer, die stuckverzierten Decken, den Ausblick auf den begrünten Platz und die nette Familie auf der anderen Seite des Flurs.
Die Blumenthals waren zu fünft: Vater, Mutter, zwei Mädchen und ein Stammhalter. Letzterer, wohl nicht einmal vier Jahre alt und von allen nur »Benni« genannt, nahm mit David und Rebekka an der Wohnungsbesichtigung teil und kommentierte jeden Raum, als sei er der Vermieter und nicht jener steife Herr, der da mit einem Hut unter dem Arm die Vorzüge des Etablissements anpries. Irgendwann nahm Rebekka den Blumenthal-Kronprinzen an die Hand, was diesen nicht davon abhielt, auch weiterhin die Ausführungen des knöchernen Herrn zu ergänzen, wann immer er es für passend hielt. Offenbar bezog der Kleine seine Kenntnisse aus der gleich geschnittenen, nur spiegelverkehrt angelegten Wohnung der Eltern. Auf diese Weise kam manche Schwachstelle zutage – sehr zum Missfallen des Hausverwalters.
Dennoch unterschrieb David, nach kurzer Rücksprache mit Rebekka, gleich an Ort und Stelle den Mietvertrag. Das Leuchten in ihren Augen war ihm nicht entgangen. Schlüssel wurden übergeben, die
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