Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Stille. Das unterirdische Archiv hatte für David aufgehört zu existieren. Der Tisch und die ihn umstehenden Personen schienen, abgehoben von der Dunkelheit im Hintergrund, schwerelos in einer lichten Wolke zu schweben, in einem Nebel uralten Wissens, von dem sich ein wenig auf diesen ockerfarbenen Bögen niedergeschlagen hatte.
Ehrfürchtig flüsterte er: »Ich kann gar nicht fassen, dass diese Handschrift schon so alt sein soll. Ist das Griechisch?«
Seine Hand hatte sich wie von selbst um Rebekkas Taille gelegt. Ihre Gesichter erstrahlten im Licht der kleinen Glühlampe.
Fresenius nickte. »Der gute Zustand des Manuskriptes hat mich auch erstaunt, als ich es zum ersten Mal sah. Das Schreibmaterial ist Velin, besonders feines Pergament, das man aus der Haut sehr junger Ziegen, Schafe oder Kälber gewann. Seit dem dritten Jahrhundert vor Christus wurde es mehr und mehr dem Papyrus vorgezogen.«
»Weil es haltbarer ist?«
»Nein, zunächst vor allem wegen eines ägyptischen Ausfuhrverbots von Papyrus nach Pergamon, der kleinasiatischen Stadt, dem das Pergament seinen Namen verdankt. Das ist heute unser Glück. Selbst bei optimaler Lagerung, wie man sie in diesem Fall voraussetzen muss, wäre Papyrus in den vergangenen zweitausendzweihundert Jahren bestimmt zu Staub zerfallen.«
»Das Buch ist über zweitausend Jahre alt?«, fragte David ungläubig. »Sie machen mich immer neugieriger. Was steht denn überhaupt drin?«
Der Bibliothekar lächelte unergründlich. »Für Historiker wohl nur lauter fragwürdiges Zeug, noch dazu mystisch verbrämt, Wahrheit und Lüge sind also schwer voneinander zu trennen. Letzteres ist allerdings für Texte der Antike nicht außergewöhnlich. Selbst bei Herodot kann man sich nie ganz sicher sein, was nun Legenden und was historische Fakten sind. Ich vermute, das ist auch der eigentliche Grund dafür, dass die Gelehrten diesen Text nie wirklich ernst genommen haben – das und die merkwürdige Geschichte der Pergamentbögen.«
»Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter, Herr Fresenius. Was steht denn nun in der Handschrift?«
»Der Text muss kurz nach dem Tode Alexanders des Großen verfasst worden sein. Er beschreibt die Ermordung des jungen Eroberers…«
»Halt, halt«, unterbrach David den Bibliothekar. »Was erzählen Sie da! Ich denke, Alexander ist in Babylon an Malaria gestorben.«
»Was auch der Rest der Welt glaubt. In diesem Text wird aber etwas anderes behauptet. Das Dokument enthält die Lebenserinnerungen eines gewissen Jason, eines Griechen, der zuletzt in Babylon wohnte, ›in Sichtweite des Heiligen Tors‹, wie er selbst berichtet. Der Verfasser fühlte sich offenbar von einem Schurken bedroht, den er als so böse charakterisiert, dass ›selbst das Licht vor ihm zu fliehen scheint‹. Offenbar glaubte Jason, mit diesen Aufzeichnungen sein Leben schützen zu können, was vermutlich ein Irrtum war.«
»Und woraus schließen Sie das?«
»Jason hat seine Anklage gegen die Bruderschaft vom Ende des Sonnenkreises nie vollendet.«
»Wen bezichtigt er denn welcher Tat?«
»Der Oberschurke in seinem Drama ist offenbar ein gewisser Fürst Belial.«
Rebekka stieß einen kleinen Schrei aus und griff nach der Hand ihres Mannes.
»Was ist?«, fragte Fresenius.
David musste erst schlucken, bevor er antworten konnte. »Nichts. Dieser Name ist uns nicht ganz unbekannt, das ist alles.«
Fresenius kratzte sich am Ellenbogen. »Das wundert mich gar nicht. In der Bibel wird der Name ›Belial‹ mehrfach im Zusammenhang mit besonders nichtsnutzigen Männern gebraucht. Paulus fragt in seinem zweiten Brief an die Korinther sogar: ›Welche Teilhaberschaft hat Licht mit Finsternis? Welche Harmonie besteht ferner zwischen Christus und Belial?‹«
Der Name Belial als Synonym der Finsternis – das passt. Der Schattenlord schien die Rolle des Finsterlings wie kein anderer zu verkörpern. David fröstelte. Mit bebender Stimme fragte er: »Was hat Jason diesem Fürsten denn angelastet?«
»Belial muss zu seiner Zeit erheblichen Einfluss besessen haben, sowohl am persischen wie auch am makedonischen Hof. Offenbar spielte er geschickt die widerstreitenden Parteien gegeneinander aus, um seine eigenen Interessen zu wahren, über die Jason sehr wenig schreibt. Als der makedonische König Philipp II. Belials Einfluss zu entgleiten drohte, weil er zu mächtig wurde, intrigierte der Fürst mit Philipps Sohn Alexander gegen den Thron. Jason gehörte damals zur Bruderschaft vom
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