Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
versicherte er seinem Freund: »Du wirst natürlich nicht mit auf die Insel kommen.«
Schrecken malte sich auf Balus Gesicht. »Auf die Insel? Du willst doch nicht…«
»Aber ja, mein Guter. Wenn das Löwengesicht, von dem Meister Zangh Singh gesprochen hat, der von uns Gesuchte ist, dann werde ich mit ihm sprechen – selbst wenn er sich in einer Pestkolonie verkrochen haben sollte.«
David hatte, aus einer Ahnung heraus, die Koffer rechtzeitig bei der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof deponiert. So mussten sie jetzt nach dem Zwischenfall im Goldenen Tempel nicht ins Hotel zurückkehren. Für das Auftauchen der schießwütigen Sikhs fand er nur eine Erklärung: Seine Anwesenheit konnte den Verschwörern, die Gandhis Tod geplant und den Mahatma womöglich schon längere Zeit beobachtet hatten, nicht entgangen sein. Höchstwahrscheinlich handelte es sich sogar um dieselbe Gruppe von Fanatikern, deren Bombenanschlag er zehn Tage zuvor vereitelt hatte. Der Rest ließ sich leicht schlussfolgern: Wenn der Drahtzieher all dieser Aktionen ein Mitglied des Kreises der Dämmerung war, wusste er nun, mit wem er es bei dem hoch gewachsenen, weißhäuptigen Engländer zu tun hatte. David seufzte innerlich. Schon um Balus willen würde er sich wieder einen neuen Namen zulegen müssen.
Mit finsterer Miene blickte er über die Straße. Auf der anderen Seite stand Balu und verhandelte mit einem Mann, der einen roten Turban trug, vermutlich dem Kennzeichen für Schlitzohrigkeit. Anlass des heftigen Wortwechsels war die Übertragung der Eigentumsrechte an einem Schrotthaufen. Die auf vier abgefahrenen Reifen ruhende Blechansammlung musste einmal ein japanisches Armeefahrzeug gewesen sein, ein viersitziger offener Geländewagen des gleichen Typs, der von David einmal in der Bucht von Tokyo gekapert worden war.
Balu hatte einen Vorteil errungen, unschwer erkennbar an dem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck des Turbanträgers. Eine schwer abschätzbare Zahl von Rupien wechselte den Besitzer. Dann kam Balu in bester Laune auf David zugehumpelt.
»Wir haben ein neues Automobil, Sahib!«
»Und ich habe es für eine Nähmaschine gehalten.« Balu stutzte. »Wozu wäre die uns von Nutzen, Sahib?«
»Schon gut, Balu. Du bist mir eine große Hilfe.« Das Gepäck war auf den Rücksitzen schnell verstaut. David setzte sich ans Steuer, trickste mit einem Zündschlüssel, der wie ein Nagel aussah, die widerspenstige Elektrik aus und brachte den Motor auf Trab. In Schlangenlinien steuerte er dann den Geländewagen mitten in das Getümmel aus Fahrrädern, Rikschas und Fußgängern hinein, vorbei an Straßenhändlern, die den Passanten ihre Messingwaren, Früchte oder Ziegen anboten.
»Ich finde, das Automobil läuft vorzüglich, Sahib.« Aus Balus Stimme sprach der Stolz des erfolgreichen Geschäftsmannes.
»Besser, als ich es für möglich gehalten hätte«, brummte David. »Wie viel hast du dem Halsabschneider eigentlich dafür in die Hand gezählt?«
»Das soll nicht dein Problem sein, Sahib.«
»Ich möchte dir die Kosten aber erstatten.«
»›Sende dein Brot hinaus auf die Oberfläche der Wasser und im Verlaufe vieler Tage wird es zu dir zurückkehren.‹«
David hob verwundert die Augenbrauen und blickte für eine Sekunde in Balus schmunzelndes Gesicht.
»Du hast mich schon vor langer Zeit reich gemacht, Sahib. Mit deiner Freundschaft und mit deinem Geld. Jetzt kann ich dir ein wenig von beidem zurückgeben.«
David schluckte einen Kloß hinunter. »Ich wundere mich nur, dass ein Hindu wie du mit einem Mal aus der Bibel zitiert.«
»Oh, ich wusste nicht, dass der Sinnspruch aus eurer Heiligen Schrift stammt. Ich habe ihn von Bapu. Aber nun wird mir einiges klar. Er hat während seiner Studienzeit in England viel in eurer Bibel gelesen. Zum Vizekönig sagte er einmal, wenn Großbritannien und Indien sich nur an die Worte aus Jesu Bergpredigt hielten, gäbe es längst Frieden zwischen beiden Ländern.« Und mit einem wehmütigen Unterton in der Stimme fügte Balu hinzu: »Der Mahatma wusste die Wahrheit zu finden, auch an den ungewöhnlichsten Orten.«
»Das habe ich ja so an ihm geschätzt«, pflichtete David bei. »Wohin jetzt?«, fügte er schnell hinzu. Sie näherten sich einer Straßengabelung.
»Nach rechts. Wir fahren in Richtung pakistanische Grenze, immer am Sutlej entlang.«
Der Wagen erreichte bald die Außenbezirke Amritsars und holperte auf eine Sandpiste hinaus, die dem Flusslauf folgte. Der Sutlej sei der
Weitere Kostenlose Bücher