Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Wissen über die Qumran-Rollen verraten. David vergewisserte sich, ob der dicke Umschlag noch in seiner Brusttasche steckte. Das Leben bestand aus vielen Umwegen und manche davon erwiesen sich erst im Nachhinein als Abkürzungen.
Endlich fand er das Amt in einem roten Backsteingebäude. Mit gemischten Gefühlen überreichte er den Brief einem desinteressiert wirkenden Schalterbeamten. Im Vergleich zu David hatte das Kuvert eine eher kurze Reise zu bewältigen. Wenn es denn je seinen Empfänger erreichte. Der Adressat wohnte nämlich in Haifa. Wenigstens nahm David dies an, weil dort die Mutter von Hermann Aronheim alias Zvi Aharoni lebte.
David setzte alles auf eine Karte: Sein jüdischer »Bruder« benötigte Informationen über den Kreis der Dämmerung sowie über Jasons Geschichte, damit er in den Qumran-Rollen nach versteckten Hinweisen suchen konnte. Davids Schilderungen waren ein verbaler Drahtseilakt, ein simpler Code, den jeder halbwegs intelligente Geheimdienstler vermutlich beim Frühstück nebenher knacken konnte. Immerhin bestand ein nicht geringes Risiko, dass der Brief mit den verklausulierten Angaben und vielleicht sogar dessen Empfänger »verloren« gingen. Am 14. Mai endete nämlich das britische Mandat über Palästina. Der jüdische Nationalrat würde einen neuen Staat ausrufen: Israel. Die Bevölkerung Palästinas bestand allerdings zu etwa zwei Dritteln aus Arabern, und die wehrten sich mit Bomben und Gewehren gegen das, was die Juden als ihr gottgegebenes Recht ansahen. Schon bevor Zvi sich freiwillig zur britischen Armee gemeldet hatte, war er in der jüdischen Siedlerpolizei aktiv gewesen. Jetzt, da die Situation im Gelobten Land zu eskalieren drohte, konnte man unmöglich sagen, welche Rolle der idealistische junge Zvi in diesem Konflikt einnahm.
Die Liberté war im Vergleich zu dem roststarrenden griechischen Dampfer eine noble Herberge mit Stahlkiel und drei Schornsteinen. David leistete sich eine bescheidene kleine Innenkabine und genoss die Spaziergänge an Deck. Hier oben konnte er ungestört nachdenken. Nur wenige Gäste setzten sich freiwillig den Frühjahrsstürmen und der eisigen Gischt aus.
In Marseille ging David von Bord und fuhr mit dem Zug nach Paris. Dort fand er schnell ein preiswertes Zimmer in einer kleinen Pension nahe dem Pantheon und widmete sich erneut der Suche nach Marie Rosenbaum, Sie war seine einzige, hoffentlich noch lebende Angehörige.
In den folgenden Wochen reihten sich Erfolge und Enttäuschungen aneinander, David schrieb hunderte von Briefen: an das Rote Kreuz, an Flüchtlingsorganisationen, verschiedene Archive der Siegermächte und an etliche Privatpersonen, die während der Kriegsjahre militärische oder politische Schlüsselpositionen bekleidet hatten.
Schon am Tag nach seiner Ankunft nahm er ein zweites Projekt in Angriff. Er benötigte dringend neue »Brüder«, vorzugsweise Kenner koreanischer und indischer Schriftzeichen. Weil er nicht wusste, welche brisanten Geheimnisse noch in den erbeuteten Dokumenten schlummerten, brauchte er absolut vertrauenswürdige Helfer. Die souveränen Staaten Indien und Pakistan waren gewissermaßen Neugeborene, weniger als ein Jahr alt. Um das lange von Japan beherrschte Korea stritten sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Allem Anschein nach würde das Land zerrissen werden, um aus den beiden Hälften noch im laufenden Jahr zwei unabhängigabhängige Staaten zu bilden. Aufgrund dieser Entwicklungen schien es nicht geraten, einfach in ein Konsulat zu marschieren und dort nach geeigneten Übersetzern zu fragen. Also verlegte sich David auf Zeitungsannoncen.
Die Ergebnisse waren entmutigend. Er sprach mit Exilanten zwielichtiger Provenienz, deren radikale Gesinnung kaum auf baldige Bekehrung hoffen ließ, traf einen koreanischen Koch, der nicht lesen konnte, und verabredete sich mit einem Schamanen, der sich für unsterblich hielt, von ehemaligen Anhängern aber trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – davongejagt worden war. Wäre das geheimnisvolle Dokument aus Ben Nedals Haus in Vietnamesisch verfasst gewesen, hätte David mühelos einen Übersetzer engagieren können – Frankreich pflegte Indochina in diesen Tagen mit regelmäßigen Blutbädern zu beglücken. Bald hatte sich bei ihm die Überzeugung festgesetzt, dass er in London wesentlich schneller auf einen vertrauenswürdigen Kandidaten stoßen würde. Die Stadt an der Themse übte sich als Nachlassverwalter des britischen
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