Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
nicht teilnehmen. Die Unternehmensleitung beauftragt ihn mit der Ausarbeitung einer Aktion im russischen Zweig. Eine Blockierung minimalen Ausmaßes mit maximalen Folgen wäre genau das Richtige, um die geschäftsschädigenden Machenschaften der Konkurrenz zu kompensieren. Salzmann wird wissen, was er zu tun hat. Sie werden angewiesen, ihm jede mögliche Hilfe zukommen zu lassen. Ich grüße Sie im Geiste des Aufbruchs.
Ben Nedal
Ohne rechte Freude registrierte David den drängenden Ton des Schreibens. Man sah ihn also als ernsthaften »Konkurrenten« und glaubte offenbar nicht an eine Verkettung unglücklicher Umstände, was Toyamas Bekanntschaft mit einer explodierenden Atombombe betraf Der Kreis war also aufgeschreckt. Gut. Auch ohne den Brief hätte sich David dergleichen denken können. Aber der Rest der Mitteilung blieb für ihn ein Rätsel. Warum hieß es da, es hätte nur beinahe eine Katastrophe gegeben? Der Totalausfall des treuesten Logenbruders für den Kreis der Dämmerung musste doch ein Desaster darstellen. Und dann dieser »Salzmann«. Wer war das? Etwa ein weiterer Logenbruder in Russland, wie vermutlich auch der koreanische Adressat des Briefes?
»Es hilft nichts«, beschloss David die Spekulationen. »Solange mir nicht einfällt, wer dieser An Chung-gun ist, werden wir weiter im Nebel herumstochern müssen.«
»Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn«, sagte Soo-wan schmunzelnd. »Mach dir keine Sorgen, jüngerer Freund. Fahr nach Paris zurück und suche nach deiner Schwiegermutter. Wenn es irgendeinen An Chung-gun gibt, der kürzlich in Korea aufgefallen ist, finde ich ihn für dich und schicke dir ein Telegramm. Wie weit soll ich zurückgehen?«
»Einhundert Jahre.«
Der Professor stutzte. »Willst du etwa einen Greis jagen?«
David lächelte geheimnisvoll. »Wer kann das schon wissen?«
Als David Mitte August im Zug nach Paris saß, war er dennoch zufrieden. Auf seinem Schoß lag eine Zeitung. Gedankenverloren blickte er auf die vorbeifliegende Landschaft und lächelte. Seine Bruderschaft hatte Zuwachs bekommen. Was würde wohl die Übersetzung der übrigen Dokumente aus dem Sturmpalast ergeben? Indu war beinahe ebenso begierig darauf wie er, es zu erfahren. Einen weiteren Etappensieg konnte er ja bereits verbuchen: die Entdeckung des neuen Namens – An Chung-gun. Er musste diesem Anhaltspunkt unbedingt nachgehen.
Was war nur mit der mysteriösen »Aktion im russischen Zweig« gemeint, von der das Dokument sprach, dieser womöglich folgenreichen Blockierung? David seufzte. Dann fiel sein Blick auf die Zeitung.
BERLINER BLOCKADE
GEHT IN DIE ACHTE WOCHE –
NOCH IMMER KEIN ENDE IN SICHT.
Und mit einem Mal fiel es David wie Schuppen von den Augen. Die Sowjets hatten in der zweiten Junihälfte alle Zufahrtswege nach West-Berlin geschlossen. Seitdem befand sich die Stadt in einem Ausnahmezustand. Die Bevölkerung wurde über eine Luftbrücke versorgt. Erst vor wenigen Tagen hatte David einen alten Kameraden aus Bletchley Park getroffen und erfahren, wie explosiv die Lage in Deutschland tatsächlich war. Angeblich sei auf amerikanischer Seite sogar von einem gewaltsamen Durchbrechen nach West-Berlin die Rede gewesen. Einige Militärs hätten auch laut über den Einsatz von Atomwaffen nachgedacht. Je länger David überlegte, desto mehr glaubte er, in all dem die Handschrift Belials erkennen zu können. In der Aktion des »russischen Zweiges« hatte wirklich eine Zeit lang das Potenzial gesteckt, die beschworenen »maximalen Folgen« heraufzubeschwören.
Glücklicherweise schien sich die Lage wenigstens so weit entspannt zu haben, dass die Panzer der Kontrahenten an der Berliner Sektorengrenze nicht mehr aufeinander zielten. Nur »Rosinenbomber« warfen alle zwei bis drei Minuten ihre süße Last an kleinen Fallschirmen über den Kindern der Stadt ab, die schwereren Pakete wurden anschließend auf dem Flughafen Tempelhof ausgeladen. Der »maximale« Erfolg für Belial war also ausgeblieben. David zwang sich, die Lage ruhig und sachlich zu beurteilen. Er hätte diesen Konflikt ohnehin nicht verhindern können. Wie lautete doch gleich Lady Eleanors Credo: Tu, was du zu tun imstande bist.
David atmete wieder ruhiger. Mit dem »russischen Zweig« musste jenes Mitglied des Kreises der Dämmerung gemeint sein, das in der Sowjetunion wirkte. Konnte An Chung-gun der Schlüssel zum Reich des russischen Bären sein? David fasste einen neuen Entschluss: Sobald er das
Weitere Kostenlose Bücher