Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Enthusiasmus passte mehr zu einem Achtzehn- denn einem Achtzigjährigen.
David holte tief Luft. Vor diesem Augenblick fürchtete er sich schon seit Tagen. Missmutig warf er sich den Beutel mit den Dokumenten über die Schulter und antwortete: »Was schon, Balu? Ich werde nach Europa zurückkehren und weiter meine Schwiegermutter suchen und du wirst nach Delhi heimfahren.«
»Du kannst nicht ewig als einsamer weißer Wolf durch die Welt wandern!«, schnaubte Balu erbost. »Jeder braucht einen Freund, dem er vertrauen kann. Ich lasse dich auf keinen Fall allein, Sahib. Schließlich muss dich jemand beschützen.«
»Irgendwie werde ich wohl ohne deinen Beistand zurechtkommen müssen.«
»Das ist unmöglich, Sahib.«
»Ich weiß.«
»Viel zu gefährlich, Sahib.«
David verharrte mitten im Schritt. Fast wäre ein Passant über ihn gestolpert. »Balu!« Ernst, den Kopf leicht schräg, blickte er dem kleinen Inder in die funkelnden Augen. »Ich möchte nicht mit dir streiten. Aber mein Entschluss steht fest. Deine Hilfe war für mich unschätzbar und nie werde ich dir angemessen dafür danken können. Doch Belial wird versuchen dich zu töten, wenn du an meiner Seite bleibst. Ganz davon abgesehen, dass mich das zerreißen würde, darfst vor allem du nicht auch noch wegen mir Schaden nehmen. Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich habe schon bei Rebekka versagt und… «
»Dich trifft keine Schuld an ihrem Tod«, unterbrach sanft der alte Mann seinen Freund. Es war ihm anzusehen, wie wenig ihm Davids Entschluss schmeckte. Doch Baluswami Bhavabhuti besaß genug Weisheit, um sich in die unabänderliche Entscheidung seines Gefährten zu fügen. Er seufzte aus tiefster Seele. »Dann wirst du also erst zufrieden sein, wenn ich in hohem Alter langsam verdorre und in meinem Bett zu Staub zerfalle?«
David legte seine Hand tröstend auf die Schulter des Freundes. »Werde jetzt nicht melodramatisch. Dann bist du schließlich einhundertdreiunddreißig, wie du es immer behauptet hast. Das heißt, ich bin derjenige, der zuerst vertrocknet.«
Der Himmel des Mittwochs verschleierte nichts. Die Sonne schien wieder, als gebe es auf der Welt keine Finsternis. Zwei Tage war es her, dass Stürme das Meer gepeitscht und Ben Nedal ein feuchtes Ende gefunden hatte, David war auf Balus Rat eingegangen und hatte ihn einen anonymen Anruf bei der Polizei machen lassen: Es habe da einen Unfall auf Manora gegeben, möglicherweise auch einen Selbstmord; die Behörden sollten der Sache besser nachgehen.
Die Morgenzeitungen berichteten dann erst am 10. Februar von dem grauenvollen Ableben eines eher zwielichtigen Bürgers der Stadt, Nirgendwo war Ben Nedals Name zu lesen, dafür einige andere, deren er sich bedient haben sollte. Wie es hieß, habe der Bewohner des Strandpalastes sich aus bisher unerfindlichen Gründen am Montag, dem 8, Februar, ins Meer gestürzt. Seine sterblichen Überreste seien nur aufgrund einer blütenartigen Tätowierung in der Achselhöhle zu identifizieren gewesen. Ein Bediensteter des Verstorbenen – er wollte namentlich nicht genannt werden – äußerte jedoch Zweifel am Freitod seines Arbeitgebers: Bei der Leiche wurde kein einziger der Ringe gefunden, mit denen der Verblichene noch kurz vor seinem Ableben gesehen worden war.
Als David das Fallreep der Kassandra emporstieg, verschwendete er keinen Gedanken mehr an Belials verloren gegangenen Bruder. Unten am Kai stand Balu Dreibein, würdig und ernst. Er blickte seinem Sahib nach, Balu hatte die Tränen bis zuletzt hinter einer unbewegten Miene zurückgehalten.
David wusste, wie es um seinen Freund bestellt war. Erst das Attentat auf Gandhi, dem er mehr als zwanzig Jahre gedient hatte, und nun, kurz darauf, dieser Abschied, dessen Endgültigkeit für ihn kaum weniger schmerzlich sein musste. Wenigstens sei Bapus Tod gesühnt worden, hatte Balu nach der Rückkehr aus dem Sturmpalast gesagt und daraus offenbar einen gewissen Trost gezogen.
Als die Kassandra ablegte, winkte David seinem treuen Freund von der Reling her zu. Auch ihm war schwer ums Herz. Und während das griechische Passagierschiff sich langsam vom Kai entfernte, begann auch der kleine steife Inder auf der Mole aufzutauen. Zuerst winkte er nur verhalten mit dem Stock, aber dann fuhr der elfenbeinerne Knauf durch die Luft, dass man nur hoffen konnte, niemand würde ihm zu nahe kommen. David war sich nicht sicher, was Balu Dreibein als Letztes rief, aber er glaubte, der Wind wehe ihm ein
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