Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Schicksal von Marie Rosenbaum geklärt und Sicherheit über die Identität des koreanischen Verbündeten Ben Nedals gewonnen hatte, würde er wieder nach Asien aufbrechen. Er musste diesen An finden.
Neben den vielen Briefen zur Klärung des Schicksals von Rebekkas Mutter verfasste David natürlich auch weiter Artikel für Time. Die Berichte über Gandhi hatten Henry Luce gefallen – natürlich nur vom publizistischen Aspekt her – und er nahm fast alles, was sein Pariser Korrespondent ihm schickte.
Nicht allein beruflicher Natur war Davids erneutes Zusammentreffen mit Eleanor Roosevelt, die immer noch der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vorstand. Bereits kurz nach seiner Ankunft hatte er eine Vorlesung der couragierten Lady an der Sorbonne besucht. Die Universität lag nur wenige Gehminuten von Davids bescheidener Unterkunft entfernt.
Die Ausführungen der Präsidentenwitwe waren für ihn ein Erlebnis. Sie habe stets gedacht, mit der Erziehung der eigenen Kinder sei ihre Geduld bereits bis zum Äußersten strapaziert worden, berichtete sie, doch »der Vorsitz in der Menschenrechtskommission war eine noch größere Geduldsprobe«. Zwar bestehe die Aufgabe des Gremiums in der Verabschiedung einer Erklärung der allgemeinen Menschenrechte, aber das halte die anderthalb Dutzend Kindsköpfe nicht davon ab, verbissen um ihre Lieblingsspielzeuge zu streiten. Der chinesische Delegierte wollte in dem Schriftstück unbedingt die konfuzianische Philosophie vertreten wissen, die Sowjets brachten regelmäßig Karl Marx ins Spiel, für die Vereinigten Staaten musste das Dokument den Geist der American Bill of Rights widerspiegeln und ein katholisches Kommissionsmitglied trat unverdrossen für die Lehren Thomas’ von Aquin ein.
Lady Roosevelts Schilderungen bereiteten nicht nur David Vergnügen. Augenscheinlich sprach da eine große, mit allen Wassern gewaschene Frau, die ihre familiären Erfahrungen geschickt auf dem politischen Parkett einzusetzen verstand. Unter dem Eindruck der Vorlesung verfasste David einen Artikel und nannte Lady Roosevelt darin »eine Mutter, die einer großen Familie mit oftmals lauten, bisweilen aufsässigen, aber im Grunde gutherzigen Jungen vorsteht, die hin und wieder entschieden in ihre Schranken verwiesen werden müssen«.
Eleanor Roosevelt freute sich aufrichtig, als David sie im Anschluss an ihren Vortrag ansprach.
»Wollten Sie nicht nach Indien reisen, Mr Pratt?«
»Ich bin schon wieder zurück.«
»Wir waren alle erschüttert, als wir von der Ermordung Mahatma Gandhis hörten.«
»Wem sagen Sie das! Ich war dabei, als es geschah.«
»Nein, wie schrecklich! Sie müssen mir unbedingt davon erzählen. Wollen wir gemeinsam zu Abend essen?«
Im Gegensatz zu vielen Menschen, denen Todesnachrichten einen durchaus willkommenen Nervenkitzel zufügten, war Eleanor Roosevelt wirklich betroffen. Gandhi hatte sich für die Gleichberechtigung der Unberührbaren eingesetzt, die Unterdrückung der Frau angeprangert, also genau für jene Rechte gefochten, die auch ihr am Herzen lagen.
»Bitte seien Sie mir nicht böse«, sagte David, nachdem er zu fortgeschrittener Stunde einen letzten Schluck von dem herrlichen Bordeaux genommen hatte, »aber ich habe meine Zweifel, ob eine einfache Erklärung der Menschenrechte uns Erdenbürgern wirklich die körperliche und seelische Unversehrtheit sichern kann.«
Lady Roosevelt dachte gründlich nach, bevor sie lächelnd den Kopf schüttelte. »Es geht hier nicht um Träume, Mr Pratt, obgleich mir bewusst ist, dass wir eine Vision in Worte zu fassen versuchen, zu deren Verwirklichung es mehr als nur eines Stückes Papier bedarf. Natürlich reicht es nicht aus, die Freiheit jedes Erdenbürgers in einer Urkunde zu beschwören. Die Menschenrechte müssen gelebt werden.«
»Wenn ich mich recht entsinne, hat Jean-Jacques Rousseau einmal gesagt: ›Der Mensch ist frei geboren und doch überall in Ketten.‹ Das war noch vor der Französischen Revolution. Wir beide wissen, wie wenig die Freiheit bis heute geachtet wird, selbst in Ländern, wo sie in der Verfassung verankert ist.«
Lady Roosevelts Miene verriet Mitgefühl, »Sie sind ein sehr verbitterter Mann, Mr Pratt. Ich wünschte, etwas von meiner Zuversicht würde auch auf Sie abfärben.«
David scheiterte am Versuch eines Lächelns, »Ich war nicht immer so. Das Leben und Menschen, die Ihre Ideale, Lady Eleanor, mit Füßen treten, haben das aus mir gemacht, was ich heute bin. Aber dennoch
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