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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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haben Sie mir schon mehr geholfen, als Sie vielleicht denken. Hoffentlich können Sie Ihre ›Kinderschar‹ bändigen, damit Ihre hervorragende Arbeit in der Kommission nicht vergeblich war.«
    »Keine Sorge, Mr Pratt. Das deichseln wir schon. Und bei der Abstimmung der Generalversammlung über unsere Erklärung müssen Sie einfach dabei sein. Ich werde Ihnen eine Einladung schicken.«
    Was wie eines der vielen leichtfertig dahingesagten Versprechen klang, sollte noch vor Ablauf des Jahres eingelöst werden. Ende November fand David in seiner Post eine höchst offizielle Einladung mit Lady Roosevelts Unterschrift, und wenige Tage später, am 10. Dezember 1948, wohnte er als Gast einer feierlichen Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen bei. Fast kam es ihm vor, als hätte Lady Eleanor seinetwegen die Vertreter der UN-Mitgliedsstaaten nach Paris beordert. Die Delegierten versammelten sich in dem unlängst erbauten Palais de Chaillot. Anlass der außerordentlichen Sitzung war die Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. David hörte bewegt, wenn auch nicht ohne eine gewisse Skepsis, was die Menschenrechtskommission da im Verlaufe von ungefähr zwei Jahren erstritten hatte.
     
    Alle Menschen sind frei
    und gleich an Würde und Rechten geboren.
    Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt
    und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
     
    Im Geiste der Brüderlichkeit. Dem Artikel eins folgten neunundzwanzig weitere, ein beachtliches Plädoyer für die Menschenrechte und fundamentalen Freiheiten jedes Erdenbürgers. Aber waren sie mehr als das? Auch das zweite globale Gemetzel hatte mit dem Ruf geendet: »Nie wieder Krieg!« Allein Davids jüngste Erfahrungen auf dem indischen Subkontinent zeigten, wie weit es mit der Brüderlichkeit der Menschen her war. Er wünschte sich an diesem Freitag in Paris so sehr, der gemeinsame Ruf nach Einheit und Freiheit für alle möge den Jahrhundertplan zu Fall bringen, aber er hegte ernste Zweifel daran.
    Der Sondersitzung folgte ein Fototermin, bei dem Lady Roosevelt ein riesiges gedrucktes Exemplar »ihres Babys« in die Kameras hielt. Anschließend fand ein Stehempfang statt, der den vorerst letzten Berührungspunkt beider Lebenswege markierte.
    Eine knappe Woche nach der Sondersitzung wurde David auf brutale Weise in die Wirklichkeit zurückgeworfen. Die Post brachte einen Brief aus Deutschland. Er stammte von einem Zentralarchiv, das die alliierte Militärbehörde im württembergischen Ludwigsburg zur Aufklärung von NS-Verbrechen eingerichtet hatte. Der Inhalt war erschütternd.
     
    … müssen wir Ihnen mitteilen, dass die von Ihnen gesuchte Person, Frau Dr. Marie Rosenbaum, nachgehender Aktenlage im Jahre 1943 im Konzentrationslager Ravensbrück verstorben ist. Den entscheidenden Hinweis konnte das Archiv in einer Akte des damaligen Referats IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes finden. Besagte Dienststelle war für die Deportation von Juden in die Vernichtungslager zuständig. Insofern weisen die Umstände des Ablebens der von Ihnen gesuchten Person einige Merkwürdigkeiten auf. Ravensbrück war ein Frauen- und Kinderlager. Es diente zwar auch, aber nicht in erster Linie der Vernichtung von Menschenleben. Hier waren hauptsächlich Zwangsarbeiter, z. B. für die Rüstungsindustrie, untergebracht. Als Ärztin besaß Dr. Rosenbaum für die Nazis einen gewissen Wert, was nach der Aktenlage von der Lagerleitung auch eine Zeit lang respektiert wurde. Gründe für eine vorzeitige Liquidierung von Mme. Rosenbaum (Arbeitsunfähigkeit aufgrund schlechter Gesundheit, Vergehen gegen die Lagervorschriften, Fluchtversuch etc.) scheiden aus. Einem Dokument, das vom Leiter der Dienststelle, Adolf Eichmann, persönlich abgezeichnet war, konnten wir zweifelsfrei entnehmen, dass Marie Rosenbaum gezielt ermordet wurde. Wir betrachten es als unsere traurige Pflicht…
     
    David war wie betäubt. Vielleicht begann er allmählich demselben Wahnsinn zu verfallen, der die letzten Lebensjahre seines Vaters bestimmt hatte, aber für ihn belegte der Brief aus Deutschland eindeutig, warum Rebekkas Mutter hatte sterben müssen. Allerdings wollte ihm nicht einleuchten, weshalb sich Adolf Eichmann persönlich für Maries Ermordung verwendet hatte. Welches Interesse konnte dieser Nazi an ihrem Tod haben, der – nach allem, was David während des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg mitbekommen hatte – der Architekt der »Endlösung« gewesen

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