Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
war? Konnte es sein, dass Papen und Eichmann unter einer Decke steckten?
Wenn der letzte Strohhalm, an den ein Mensch sich klammert, zerfällt, wird die Verzweiflung zum alles beherrschenden Gefühl. Man kann kaum einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn, planvoll und vernünftig in die Zukunft blicken. Bei David war das nicht anders. Einige Tage lang ließ er sich einfach treiben. Er arbeitete nicht und kümmerte sich wenig um den Kreis der Dämmerung. Paris war ihm wieder einmal zum Gefängnis geworden. Die Mauern dieses Kerkers nahmen ihm die Luft zum Atmen. Negromanus hatte ihm hier den Sohn geraubt. Und Belial nun auch die Mutter – genau so empfand es David. Er fühlte sich einsamer als je zuvor.
Während die Stadt sich für das vierte Weihnachtsfest nach dem Krieg rüstete, reiste David mit dem Zug in Richtung Schweiz ab. Sein Ziel war Genf. Vor ziemlich genau einem Jahr hatte er hier ein Bankschließfach gemietet, in dem ein besonderer Schatz lag: zwei goldene Siegelringe. Jetzt kam ein dritter hinzu. Bevor er sein Beutestück deponierte, machte er noch einen Abdruck mit rotem Siegelwachs. Vielleicht konnte der ihm irgendwann einmal von Nutzen sein. Den rubingeschmückten Fürstenring trug David weiter an der alten Goldkette um den Hals. Eines Tages würde er alle zwölf Ringe besitzen und zerstören. Aus diesem Gedanken schöpfte er Kraft.
Über Zürich und London kehrte David nach New York zurück. Während eines mehrtägigen Zwischenstopps in der britischen Hauptstadt hatte er sich noch einmal mit Choi Soo-wan und Indu Cullingham getroffen. Der Professor steckte mitten in den Recherchen – unter den Myriaden von Kandidaten hatte er den richtigen An noch nicht gefunden. Die Offizierswitwe stockte Davids Reisegepäck um fast dreihundert handgeschriebene Seiten auf. Vereinbarungsgemäß habe sie die Übersetzungsarbeit abgeschlossen, ohne ein Sterbenswörtchen darüber verlauten zu lassen. Aus Gründen der Geheimhaltung hatte David auch keine Zwischenberichte bekommen. Natürlich wäre von Indu ein verschlüsseltes Telegramm nach Paris geschickt worden, hätte das Beutegut aus dem Sturmpalast einen konkreten Hinweis auf den Kreis der Dämmerung enthalten. Dem weißen Wolf würde nun die mühevolle Aufgabe zufallen, in den Übersetzungen nach einer versteckten Fährte zu suchen und zwischen den Zeilen zu lesen.
In New York ging David daran, sein Leben neu zu ordnen. Dabei spielte der Herausgeber des Time-Magazins eine maßgebliche Rolle. Henry Luce verhalf ihm gleich im doppelten Sinne des Wortes zu einer neuen Identität: Wie schon vor zwanzig Jahren besorgte er ihm neue Papiere. Diesmal bediente sich David des Namens Dan Kirpan. Wichtiger als die Personaldokumente war für ihn jedoch Henrys moralische Unterstützung. Davids Gefühle lagen eingeigelt unter einem Schutzpanzer, dessen Oberfläche aus spitzen Kommentaren manch gut gemeinte Freundlichkeit wirkungslos abprallen ließ. Kurz nach ihrem Wiedersehen fragte der Verleger daher besorgt und wohl nicht ohne Absicht herausfordernd, ob David inzwischen seinen Doktor in Zynismus gemacht habe.
Die verbale Ohrfeige verfehlte bei David ihre Wirkung nicht. Einer kurzen Phase des Zornes folgte eine etwas längere der Zerknirschung. Es gab noch genug Menschen, die ihn schätzten und ihm ihre Verbundenheit versichern wollten. Wenn er auch die Burg seiner Einsamkeit nicht gleich verließ, so öffnete er solchen jetzt doch wenigstens die Fenster: Er hörte sich ihre Ratschläge an und sprach gelegentlich sogar über die eigenen Gefühle. Auch begann er wieder mehr auf sein Äußeres zu achten. Er legte den Vollbart ab, nur über der Oberlippe ließ er ein weißes Büschel stehen. Um dem Müßiggang keinen Vorschub zu leisten, erlegte sich David außerdem ein strenges Tagesprogramm auf.
Von Henry bekam er bald mehr Arbeit, als ihm recht war. Der Time-Herausgeber hatte sich Davids alter Stärken erinnert, dessen Wahrhaftigkeit und Integrität. Daher überhäufte er ihn im Frühjahr 1949 mit »unmöglichen Interviewaufträgen«, Zielpersonen waren vorwiegend exzentrische und gegenüber der Presse sonst eher verschlossene Prominente. In gewohnt souveräner Weise verstand es David, sich Zugang zu diversen Türen zu verschaffen.
»David Pratt« wurde bald zu einem Markenzeichen. Er gewann den Ruf eines ruhigen, verständnisvollen und fairen Gesprächspartners, dem sich selbst sehr scheue Geschöpfe nicht verweigerten. Innerhalb kurzer Zeit interviewte er eine
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