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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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anpacken!«
     
     
    Die Sache, wie David es genannt hatte, entwickelte sich zu einem ziemlich unübersichtlichen, geradezu monströsen Unternehmen. Nachdem Soo-wan seinen »jüngeren Freund, Phil Claymore« bei den betreffenden Zeitungshäusern Seouls eingeführt und dessen »brillante Japanischkenntnisse als wertvolle Waffe gegen den militaristischen japanischen Imperialismus« verkauft hatte, entschwand er in die Provinz.
    Die nächsten Monate verbrachte David in Gesellschaft alter vergilbter Zeitungen, atmete die muffige Luft enger Archive und büffelte Koreanisch. Zwischendurch schrieb er Artikel für Time, half als Japan-Experte im UN-Hauptquartier aus oder knüpfte Kontakte zu anderen Auslandskorrespondenten. Abends, wenn er sich nicht gerade mit Soo-wans »jüngeren und älteren Freunden« traf, hörte er die vom Rundfunk der amerikanischen Streitkräfte in Korea ausgestrahlten Nachrichtensendungen. Das Radiogerät hatte Kaeddong aufgetrieben. Es schien nichts zu geben, was er nicht besorgen konnte.
    Im Nachbarland war Mao Zedong im Streit mit Chiang Chung-cheng zu einem für ihn befriedigenden Ergebnis gelangt. Er hatte seinen – der übrigen Welt eher als Tschiang Kaischeck bekannten – Rivalen samt zwei Millionen Gefolgsleuten ins Meer getrieben (die Guomindang-Anhänger konnten sich glücklicherweise an Taiwans schmales Ufer retten). Auf dem Festland rief der Führer der chinesischen Kommunistischen Partei am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China aus. Korea drohte vom Fieber des Bürgerkriegs angesteckt zu werden. Im Dezember reiste Mao zu Verhandlungen mit Stalin nach Moskau. Jetzt, wo er sich nicht mehr um den abtrünnigen Chiang kümmern musste, brauchte seine Rote Armee ein neues Betätigungsfeld. Vielleicht konnte sich der rote Norden Chosons ja an der Seite der großen Brüder aus Moskau und Peking des Ärgernisses entledigen, das man gemeinhin Südkorea nannte.
    Als David fünfzig wurde, befand sich Soo-wan immer noch auf Reisen. Natürlich hielten sie regelmäßig Kontakt, aber die Rechercheergebnisse des Professors waren beinahe so deprimierend wie Davids Archivwühlerei.
    Zur inneren Stärkung unternahm er während des trockenkalten Winters daher des Öfteren Spaziergänge durch die Gärten der alten Königspaläste, um sein Vorgehen zu überdenken.
    An einem klaren, klirrend kalten Märznachmittag des Jahres 1950 suchte er wieder eine dieser Oasen der Stille auf, die hinter verwitterten Mauern schlummerten wie Relikte einer lange versunkenen Welt. Diesmal hatte er sich für seinen »Gedankengang« den geheimen Garten von Changdok ausgewählt, den »Palast der erlauchten Tugend«. David war gekommen, um einen Entschluss zu fällen. Seit der Jahreswende hatte ihn eine seltsame Unruhe befallen. Vielleicht hing es ja damit zusammen, dass er nun die Hälfte seines Lebensmaßes verbraucht hatte. Er konnte nicht wie in Deutschland ein zweites Mal Jahre damit vergeuden, gegen einen Schergen Belials zu kämpfen. Was also tun?
    Die Kälte machte den Spaziergang im Palastgarten zu einem einsamen Unternehmen. Bis 1912 hatten nur die Königsfamilie und einige auserwählte Edelleute in diesem geheimen Garten lustwandeln dürfen und jetzt schien jemand die Zeit zurückgedreht zu haben. Wenn das nur möglich wäre!, dachte David. Der Atem stand ihm in weißen Wölkchen vor dem Mund. Einfach die Jahre wie einen Film zurückkurbeln und mit Rebekka in Sicherheit fliehen…
    Um sich wieder in die Gegenwart zurückzubringen, warf er eine Fünfzigchonmünze in die Luft und setzte sie derselben Macht aus, die Antonio Scarelli fünf Jahre zuvor an einer Steinmauer hatte zerschellen lassen. Dank wochenlanger Übungen konnte David die Kraft der Verzögerung nun fein dosiert einsetzen. Er ließ Teller langsam vom Tisch rutschen, eine Katze waagerecht an einer Mauer kleben oder einen an die Wand gelehnten Besen wie durch Geisterhand umkippen. Die Kunst bestand darin, der senkrecht wirkenden Gravitation eine annähernd gleich starke Kraft entgegenzusetzen. Dies erreichte er durch die sanfte Verzögerung von Bewegungen, derer es im Universum unzählige gab: Die Erde rotierte, kreiste gleichzeitig um die Sonne, wanderte mit der Milchstraße durch das All… Leider schätzte David diese für ihn ja unsichtbaren kosmischen Ortsveränderungen nicht immer richtig ein, weshalb der unbedachte Einsatz seiner Gabe sehr gefährlich werden konnte: Ein kleines Geldstück wurde da schnell zu einem tödlichen Geschoss. Aber er machte

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