Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
das Kind an sich drückte und dessen Rücken tätschelte. Die Kleine schluchzte jetzt nur noch leise.
    »Leider haben wir vergessen, Kleidchen und Spielzeug in unsere Rucksäcke zu packen«, knurrte der Schwarzhändler zwischen den Zähnen hindurch. Er sprach Englisch, um seine gespielte Missbilligung vor dem Mädchen zu verbergen.
    »Du hast doch eine Jacke.«
    »Das bleibt auch so. Gib ihr doch deine.«
    »Von einem Geist wird sie bestimmt nichts annehmen. Die Kleine ist nackt, Kaeddong! Und nass außerdem. Nun gib ihr schon deine Jacke.«
    Der Schwarzhändler verdrehte die Augen zum Himmel, stieß eine koreanische Verwünschung aus und zog die schwere Militärjacke aus. Ganz sanft legte er sie dann auf die zerbrechlich wirkenden Schultern. Er lächelte dem Mädchen zu, um schließlich wieder David anzufunkeln und zu sagen: »Bist du jetzt zufrieden?«
    »Warum sträubst du dich eigentlich so dagegen, andere in dein großes Herz schauen zu lassen?«
    Kaeddong wich dem Blick des Wahrheitsfinders aus. Er nahm die Hand des Kindes und stapfte mit ihm nach draußen.

 
    Die Jadeprinzessin
     
     
     
    Zwei Männer mit einem Kind sind unverdächtiger als zwei ohne. Dieser Tatsache musste selbst Kaeddong beipflichten, auch wenn er es höchst widerwillig tat. Auf dem Weg zum Fischerhafen gelang es ihm, dem Kind die Angst vor dem großen weißhaarigen Mann zu nehmen. Ja, als erst einmal feststand, dass David kein Geist war, schmiegte sich die kleine Hand des Mädchens sogar in die seine. Kaeddong reagierte darauf etwas eifersüchtig – er hatte die Kleine längst in sein Herz geschlossen.
    »Wir haben sie noch gar nicht nach ihrem Namen gefragt«, sagte David, um die Zunge des Freundes zu lockern.
    »Doch, hab ich wohl.«
    »Und?«
    »Was, und…?«
    »Na, wie heißt die Kleine?«
    »Sie hat keinen Namen.«
    »Unsinn!«
    »Manche Familien sind so arm, dass die Kinder nicht einmal einen Namen haben.«
    »Jetzt mach keine Witze! So etwas gibt es doch gar nicht.«
    »In Choson schon. Dir wird es nicht entgangen sein, dass wir einander sehr respektvoll ansprechen. Kinder sagen einfach nur ›Vater‹ und ›Mutter‹ zu den Eltern, jüngere Schwester‹ oder ›älterer Bruder‹ zu den Geschwistern. Bei anderen Familienangehörigen ist es ähnlich. Was glaubst du, wie schwierig es ist, im Krieg auseinander gerissene Familien wieder zusammenzubringen! Die Kinder kennen selbst die Namen ihrer engsten Verwandten nicht.«
    David schüttelte ungläubig den Kopf und blickte auf die schwelenden Ruinen, die das marodierende Heer hinterlassen hatte. »Und wenn das hier erst vorüber ist, wird es noch viel schlimmer werden. Wir müssen dem Mädchen einen Namen geben.«
    »Wieso? Wir können es doch ›Findelkind‹ nennen.«
    David quittierte diesen Vorschlag mit einem vernichtenden Blick. Auf Kaeddongs Einfallsreichtum konnte er bei der Namensfindung wohl nicht bauen. Eine Weile grübelte David nach. Ihm gingen die Erlebnisse der letzten Wochen und Monate durch den Kopf. Mit einem Mal fragte er: »Was heißt eigentlich ›Prinzessin‹ auf Koreanisch?«
    Kaeddong schielte skeptisch auf das schlammverkrustete Mädchen hinab und sagte: »Hi.«
    »Recht kurz«, bemerkte David naserümpfend.
    »Es ist auch nicht sehr viel an ihr dran.«
    »Du bist unmöglich!«
    »Was mir schon oft von großem Nutzen war.« Kaeddong grinste. »Abgesehen davon hat jeder vernünftige Mensch bei uns einen Doppelnamen.«
    »Stimmt. Dann nennen wir sie Li-hi, das passt zu ihr.«
    »Besser Phil Li-hi, weil du sie ja gefunden hast.«
    Der Vorschlag gefiel David. »Vielleicht hat dein Freund eine Frau, die auf Phillihi aufpassen kann.«
    »Der Fischer?«
    »Da, wo ich herkomme, nennt man das Schmuggler. Ist er verheiratet?«
    »Witwer. Seine Frau und die einzige Tochter wurden von den Japanern ermordet. Soll allerdings ein Flämmchen im Süden haben, das er gerne neu entfachen möchte. Ich hoffe, er ist noch nicht dorthin aufgebrochen.«
    »Na, wir werden’s ja bald wissen.«
    Der weitere Weg ins Hafenviertel gestaltete sich – wie von Kaeddong nicht anders erwartet – schwierig. Phillihi fing wieder an zu quengeln. Jetzt, wo David kein Schreckgespenst mehr für sie war, redete sie unaufhörlich auf ihn ein. Die meisten ihrer Worte konnte er sogar verstehen. Zuerst hatte sie Hunger – Kaeddongs Rucksack barg eine Lösung für dieses Problem –, dann Durst – auch das ließ sich regeln –, schließlich sagte sie etwas, was in Davids Wortschatz nicht

Weitere Kostenlose Bücher