Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Nahrung versorgt, wenn sie selbst nichts Essbares hatten auftreiben können, und getröstet, wenn ihre Suche nach einem Ersatzboot wieder einmal gescheitert war. Doch dann, in der Nacht vom 22. auf den 23. August, öffnete sich ihnen unvermittelt und für nur wenige Stunden eine Tür zur Flucht.
Kaeddong schnarchte bereits wie ein ganzes Sägewerk. Phillihi hatte sich Davids Decke erkämpft und drohte ihn von der Schlafmatte zu drängen. Er selbst lag seit Stunden wach, lauschte mal dem hektischen Sägen des Schwarzhändlers, dann wieder dem gleichmäßigen Atmen des Kindes. Hin und wieder wälzte sich Phillihi herum, stöhnte oder stieß angstvolle kleine Schreie aus – Albträume. In diesen Momenten strich er ihr besänftigend übers Haar, bis sie wieder ruhiger schlief.
Plötzlich hörte David ein fremdes Geräusch: ein leises Knarren. Es kam von der Tür her, die auf die Straße hinausführte. Langsam schwang sie auf. In dieser Nacht lagen die Sterne hinter dichten Wolken. Der warme Monsunregen gönnte sich eine kurze Verschnaufpause. Trotz der Finsternis glaubte David unter der Tür einen menschlichen Schemen zu entdecken.
Sofort setzte er sich sprungbereit auf wie eine Raubkatze. Phillihi schlummerte friedlich und Kaeddong sägte weiter an riesigen Stämmen. Der nächtliche Besucher rührte sich nicht. Er stand, kaum wahrnehmbar, in der Tür und schien in aller Ruhe das Terrain zu sondieren.
Unweigerlich musste David an Negromanus denken. Im nächsten Moment hatte er das Erinnerungsbild schon wieder ärgerlich verscheucht – die rechte Hand Lord Belials existierte nicht mehr. Aber wer verbarg sich hinter diesem Schemen?
Vorsichtig glitt David näher an die Tür heran. Der stille Gast schien ihn nicht zu bemerken. Vielleicht ein Soldat, der Nachlese halten wollte, wo die Plünderer des letzten Sturms es an Gründlichkeit hatten mangeln lassen? Jeden Moment konnte er ein Gewehr in Anschlag bringen, um sich das Feld freizuschießen – Kaeddongs brutales Schnarchen war ja Herausforderung genug.
David holte tief Atem und hielt die Luft an. Immer noch tief in der Hocke kauernd, spannte er die Muskeln – und sprang. Der nächtliche Besucher wirbelte herum und wollte fliehen. Doch da traf ihn ein gewaltiger Schlag im Rücken. Er stürzte vornüber und landete ausgestreckt im Schlamm der regendurchtränkten Gasse. Voller Panik strampelte er mit Armen und Beinen, wollte sich aus dem Straßenmatsch hochdrücken, aber ein tonnenschweres Monstrum saß ihm im Kreuz. Das jedenfalls war der erste Gedanke des Plünderers. Der zweite: Gleich wird es mir den Kopf abreißen und ihn fressen – oder vielleicht doch erst die Arme und Beine?
Der Mann schrie um sein Leben. Einige Nachbarn stürzten auf die Gasse. Bombenalarm? Die Zuschauerränge füllten sich. Das Ehepaar Pak auf der einen, Kaeddong und Phillihi auf der anderen Seite machten den Anfang. Weiter oben in der Gasse kamen weitere Neugierige hinzu. Beim Opfer stellte sich Panik ein. Es konnte sich aus seiner misslichen Lage einfach nicht befreien. Schließlich ließ der Plünderer resigniert den Kopf seitlich in den Matsch sinken und fing zu wimmern an. Erst jetzt bemerkte er den Alten, der neben ihm kauerte und den Unterlegenen interessiert musterte.
Jung-sip lächelte, als sich ihre Blicke trafen, und sagte: »Schön, dich wieder zu sehen, Il. Du siehst aus, als könntest du eine gute Tasse Tee vertragen.«
»Bist du des Wahnsinns, Il, dich noch einmal hier blicken zu lassen?«
Kaeddongs Ärger mochte echter Sorge um den »Geschäftsfreund«, vielleicht aber auch der Befürchtung entspringen, ein schon als gescheitert erhofftes Himmelfahrtskommando nun doch noch antreten zu müssen. Die beiden Männer waren augenscheinlich mehr als nur flüchtige Bekannte, die in der gleichen Branche arbeiteten. Sie ähnelten einander äußerlich wie auch im Alter – beide standen am Beginn der fünften Dekade ihres Lebens.
Man befand sich beim Ehepaar Pak und trank grünen Tee.
»Ich hatte nicht vor, mich für längere Zeit einzurichten«, erwiderte ein hinlänglich gesäuberter und fast schon wieder trockener Il.
»Warum bist du überhaupt zurückgekommen?«
Il zögerte. Er massierte sich nervös seine schiefe Nase. Sein Blick sprang unruhig zwischen den Gesichtern der anderen hin und her, die gebannt auf eine Antwort warteten. »Ich habe etwas vergessen.«
Diese Antwort befriedigte die nachmitternächtliche Runde nicht. Mit Ausnahme von Phillihi, die an David
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