Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Stelle und zielte mit dem Gewehrkolben auf Davids Gesicht. Dieser streckte dem Angreifer die rechte Handfläche entgegen und rief auf Koreanisch: »Steh!«
Der Soldat gehorchte. Jedenfalls hatte es für die Beobachter den Anschein. Mit dem erhobenen Gewehr stand der Posten unbeweglich da und blickte dorthin, wo David sich längst nicht mehr befand. Der nämlich stapfte inzwischen auf den Tisch des Offiziers zu. David wusste, dass viele Läufe auf ihn gerichtet waren. Wenn es zum Äußersten kam, würde er den Platz in ein Trümmerfeld verwandeln.
»Sie dürfen diesen Mann nicht exekutieren«, rief David auf Englisch, noch ehe er den Verhörtisch ganz erreicht hatte. Der Offizier runzelte die Stirn. Er verstand den wütenden Gefangenen nicht. David wiederholte sein Begehren auf Japanisch.
Der Verhörspezialist brach in schallendes Gelächter aus, um mit einem Mal wieder ernst zu werden. »Wer will mir das verbieten? Etwa Sie, ein japanischer Kollaborateur?«, entgegnete er gleichfalls in der Zunge der einstigen Kolonialherren.
Wie David jetzt feststellte, musste der Verhörexperte doch schon Mitte oder sogar Ende dreißig sein. Sein Gesicht hatte etwas Altersloses, fast Aristokratisches. Im Gegensatz zu den einfachen Soldaten war seine Uniform tadellos sauber und gepflegt. Eher freundlich, so wie ein weiser Mann einem jugendlichen Heißsporn eine Lektion erteilt, erwiderte David: »Wenn jeder, der Japanisch spricht, ein Freund von Chosons verhassten Bedrückern ist, dann gehören Sie doch wohl auch dazu.«
Das Argument entbehrte nicht einer gewissen Logik. Der Offizier, offenbar ein Intellektueller, begann an dem Gespräch Gefallen zu finden. »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Phil Claymore. Ich komme aus New York.«
Der Militär deutete eine Verbeugung an, lächelte spöttisch und erwiderte: »Wie angenehm. Ein seltenes Vergnügen, mit einem Klassenfeind von so weit her zu sprechen. Ich bin Oberleutnant Park Pomshik. Und was, wenn ich fragen darf, führt sie in diesen unruhigen Zeiten mitten unter die Truppen des ruhmreichen Revolutionsführers Kim Il Sung?«
»Als ich hierher kam, hatte die Demokratische Volksrepublik noch keine Soldaten in Seoul stationiert. Ich arbeite im Süden Chosons als Auslandskorrespondent der amerikanischen Wochenzeitschrift Time. Dieser Mann da«, David deutete auf den zwischen zwei Soldaten stehenden Kaeddong, »ist mein Dolmetscher und Gehilfe. Wir genießen die Immunität der Presse.«
»Ach, tun Sie das?«, entgegnete der Offizier amüsiert. »Vielleicht ist es Ihnen in Amerika bisher entgangen, aber bei uns in der DVK gibt es keine Pressefreiheit. Dafür haben wir die Zensur. Sie schützt das Volk vor zersetzendem Gedankengut.«
»Lässt sie unliebsame Schreiberlinge auch erschießen?«
»Wo denken Sie hin! Aber hier geht es nicht um eine abträgliche Presse, sondern um Partisanen und Spione. Wer sagt mir, dass Sie nicht auch einer sind?«
»Ich ein koreanischer Partisan? Oder gar ein westlicher Spion? Ha!« David lachte bitter auf. »Meinen Sie wirklich, der amerikanische, britische oder sonst ein westlicher Geheimdienst ist so dumm und schickt einen bleichgesichtigen Agenten hierher ins Kriegsgebiet? Man kann auf eine Meile erkennen, dass ich kein Sohn Chosons bin.«
»Es ist klüger, eine Mücke zu erschlagen, als über den Zeitpunkt ihrer letzten Mahlzeit zu sinnieren.«
David beugte sich zu dem Offizier vor und fixierte ihn mit kalten Augen. »Bei allem Respekt, jüngerer Mann, aber das hier sind keine Insekten. Sie bringen Menschen um. Diese Männer sind ebenso Kinder Chosons wie Sie und Ihre Untergebenen.«
Unter anderen Umständen hätte dieser Einwand dem zynischen Soldaten kaum ein müdes Lächeln abverlangt, aber nicht in diesem Fall. Er befand sich einem Wahrheitsfinder gegenüber. Keines von Davids Worten war gelogen.
»Ich bin nicht Ihr Feind, Oberleutnant Park, kein Spion und auch kein Partisan. Ihre Männer haben bei uns keinerlei Waffen gefunden. In Seoul hat uns Ihre Armee überrollt und nun sind unsere Rucksäcke für eine Reise ans rettende Ufer gepackt, das will ich guten Gewissens eingestehen. Für Sie und Ihr Land bedeuten mein Begleiter und ich keine Gefahr. Ganz im Gegenteil. Ich bin ein Mann des Wortes. Menschen glauben mir, wenn ich die Wahrheit sage. Und wenn Sie uns gehen lassen, dann werde ich nichts als die Wahrheit über die tapferen Kämpfer Kim Il Sungs berichten. Jedoch – bitte verstehen Sie das jetzt eher als Prophezeiung und nicht
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