Der Krieg am Ende der Welt
sie dachte, der Mann im Lederzeug – ein knochiger, sonnenverbrannter Mann mit kalten Augen – werde Jurema schlagen, sie mit Füßen treten, ihr vielleicht das Jagdmesser in die Brust stoßen und dann dasselbe mit dem Rothaarigen tun, der sich, wie sie spüren konnte, im Wagen hin und her wälzte. Aber nein, er schlug sie nicht. Vielmehr zog er den Hut und grüßte sie wie einen Menschen, den man achtet. Von ihren Pferden herab beobachteten die fünf Reiter den Dialog, der für sie, wie für die Bärtige, nur ein Bewegen der Lippen war. Was sprachen sie? Der Zwerg und der Idiot waren aufgewacht und spionierten ebenfalls. Nach einer Weile drehte sich Jurema um und deutete auf den Wagen, in dem der verwundete Ausländer schlief.
Der Mann im Lederzeug ging hin, gefolgt von der jungen Frau, streckte den Kopf unters Zelt, und die Bärtige sah, wie er den schlafenden oder wach liegenden Mann gleichgültig betrachtete, der noch immer mit seinen Fieberwahngestalten sprach. Der Chef der Capangas hatte die ruhigen Augen derer, die töten können, solche, wie sie die Bärtige auch an dem Banditen Pedrão gesehen hatte, damals, als er den Zigeuner besiegte und tötete. Endlich wandte er sich an Jurema, sprach zu ihr, sie stimmte zu, und da gab der Mann den Reitern ein Zeichen, abzusteigen. Jurema ging zur Bärtigen und bat sie um eine Schere. »Er wird dich doch nicht umbringen?« flüsterte sie, während sie suchte. »Nein«, sagte Jurema. Und mit der Schere in der Hand, die einmal Dádiva gehört hatte, bückte sie sich in den Wagen. Die Capangas gingen, ihre Pferde am Zügel, zu dem Laden von Ipupiará. Die Bärtige faßte sich ein Herz und rückte näher, um zu sehen, was Jurema machte, und hinter ihr hockte der Zwerg und hinter diesem der Idiot.
Neben ihm kniend – der Platz war fast zu eng – schnitt die junge Frau dem Ausländer das Haar dicht am Schädel ab. Mit der einen Hand hielt sie die Büschel roter Locken fest, in der anderen knirschte die Schere. Der schwarze Frack zeigte Flecken geronnenen Bluts, Risse, Staub, Vogelkot. Galileo Gall lag auf dem Rücken zwischen alten Kleidern und Schminkschachteln, Ringen und Rußpfropfen und kleinen Papphütchen mit Halbmonden und Sternen. Er hatte die Augen geschlossen, der lang gewachsene Bart war mit Blut verklebt, und da sie ihm die Reitstiefel ausgezogen hatten, standen aus den Löchern in seinen Strümpfen die großen, sehr weißen, schwarz geränderten Zehen heraus. Die Wunde am Hals lag unter den Kräutern und dem Verband der Heilkundigen verborgen. Der Idiot brach in Gelächter aus und hörte nicht auf zu lachen, obwohl ihn die Bärtige in die Seite stieß. Kahl, abgemagert, mit eingesunkenen Augen, offenem Mund und einem Faden Geifer, der ihm von den Lippen hing, krümmte er sich vor Lachen. Jurema beachtete ihn nicht, der Ausländer aber schlug die Augen auf und sein Gesicht verzerrte sich vor Überraschung oder Schmerz oder Schrecken über das, was sie mit ihm machten. Er war zu schwach, um sich aufzurichten, er konnte sich nur auf der Stelle bewegen und einen dieser für die Zirkusleute unverständlichen Laute ausstoßen.
Jurema brauchte eine Weile, bis ihr Werk vollendet war. So lange, daß die Capangas inzwischen Zeit gehabt hatten, in den Laden zu gehen, sich dort die Geschichte von dem Verrückten und den ermordeten Kindern erzählen zu lassen, sich anschließend auf den Friedhof zu begeben und dort unter den Augen der fassungslosen Leute von Ipupiará das Sakrileg zu begehen: die Leiche des Kindermörders auszugraben, ihn samt Sarg und allem auf ein Pferd zu laden und mit ihm fortzureiten. Nun standen sie da, ein paar Meter vor den Zirkusleuten, wartend. Als Galls Schädel geschoren war, bedeckt nur noch von einem ungleichmäßigen rötlichen Schimmer, brach der Idiot abermals in Lachen aus. Jurema bündelte die Haarbüschel, die sie auf ihrem Schoß liegen hatte, und nahm eine Kordel aus ihrem eigenen Haar, um sie zusammenzubinden. Dann sah die Bärtige sie die Taschen des Ausländers durchsuchen und einen Beutel herausziehen, in welchem, wie sie ihnen gesagt hatte, für den Fall, daß sie davon Gebrauch machen wollten, Geld war. Mit dem Haar in der einen, dem Beutel in der anderen Hand sprang sie vom Wagen und ging zwischen ihnen hindurch.
Der Chef des Capangas kam ihr entgegen. Die Bärtige sah ihn das Haar des Ausländers, das Jurema ihm reichte, entgegennehmen und es fast ohne hinzusehen in seinen Proviantsackstecken. Seine starren Pupillen
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