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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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lachte schallend und mußte laufen, damit ihn die Bärtige nicht erwischte. Eine Zeitlang bewarf sie ihn mit Steinen, aber kurz darauf wanderte er wieder neben ihr. Ihre Streitigkeiten waren so, sie glichen mehr Spielen oder einer besonderen Art der Beziehung.
    Sie gingen schweigend, ein System, schichtweise den Wagen zu ziehen und auszuruhen, hatten sie nicht. Sie hielten, wenn einer von ihnen nicht mehr weiter konnte oder wenn sie an einen Bach, eine Quelle oder einen schattigen Platz für die Zeit der größten Hitze kamen. Im Gehen ließen sie ihre Augen herumwandern, hielten Ausschau nach Nahrung, und manchmal fanden sie so eine eßbare Beute. Aber das war selten. Meistens mußten sie sich damit begnügen, Grünzeug zu kauen. Vor allem den Imbuzeiro suchten sie, einen Baum, den Gall schätzen gelernt hatte: das süßliche, wäßrige, erfrischende Fleisch seiner Wurzeln schien ihm die reinste Götterspeise.
    An diesem Abend stießen sie hinter Algodões auf eine Gruppe rastender Pilger. Sie ließen den Karren stehen und setzten sich zu ihnen. Die meisten waren Leute aus dem Dorf, die beschlossen hatten, nach Canudos zu gehen. Ein Apostel führte sie, ein alter Mann in Hanfschuhen, der ein langes Gewand über den Hosen trug. An seiner Brust hing ein riesiges Skapulier, und seine Gefolgsleute betrachteten ihn ehrerbietig und scheu wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Galileo Gall, der sich neben ihn gehockt hatte, stellte ihm Fragen. Doch der Apostel sah ihn wie aus der Ferne an, ohne ihn zu verstehen, und fuhr fort, mit den Leuten zu reden. Später sprach er von Canudos, von denheiligen Schriften und den Verkündigungen des Ratgebers, den er Jesusboten nannte. Die von Canudos würden nach genau drei Monaten und einem Tag wiederauferstehen. Die des Hundes hingegen würden sterben für alle Zeiten. Das war der Unterschied: der zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Strafe und Erlösung. Der Antichrist konnte Soldaten nach Canudos schicken: was würde es ihm nützen? Sie würden vermodern, verschwinden. Die Gläubigen konnten sterben, aber drei Monate und einen Tag später würden sie wieder da sein, unversehrten Leibes und in der Seele geläutert durch den Flügelschlag des Engels und den Anhauch des guten Jesus. Gall starrte ihn an mit glühenden Augen, angestrengt horchte er, um kein Wort zu verlieren. Als der Alte eine Pause machte, sagte er, Kriege würden nicht nur mit dem Glauben, sondern mit Waffen gewonnen. War Canudos in der Lage, sich gegen das Heer der Reichen zu verteidigen? Die Blicke der Pilger pendelten zwischen dem Sprecher und dem Heiligen hin und her. Dieser hatte Gall zugehört, ohne ihn anzusehen. Nach dem Krieg werde es keine Reichen mehr geben oder, besser gesagt, man würde es nicht mehr merken, denn alle würden reich sein. Diese Steine würden zu Flüssen werden, diese kahlen Hügel zu fruchtbaren Saaten und die Sandwüste von Algodões zu einem Orchideenhain wie der auf dem Monte Santo. Die Kobra, die Tarantel, die Wildkatze würden Freunde des Menschen sein, so wie es gewesen wäre, wenn er sich nicht aus dem Paradies hätte vertreiben lassen. Um diese Wahrheiten wieder ins Gedächtnis zu rufen, sei der Ratgeber auf der Welt.
    Im Halbschatten fing jemand zu weinen an. Ein leises Schluchzen aus tiefstem Herzen, eine ganze Weile lang. Mit einer Art Innigkeit begann der alte Mann wieder zu sprechen. Der Geist sei stärker als die Materie. Der Geist sei der gute Jesus, und die Materie sei der Hund. Die sehnlichst erwarteten Wunder würden geschehen: Elend, Krankheit, Häßlichkeit würden verschwinden. Die Hände des alten Mannes berührten den Zwerg, der neben Galileo saß. Dann würde auch er groß sein und schön wie alle übrigen. Nun weinten auch andere, angesteckt von dem Weinen des ersten. Der Apostel legte den Kopf auf den ihm nächsten Körper und schlief ein. Die Leuteberuhigten sich und einer nach dem andern tat es ihm gleich. Die Zirkusleute kehrten zu ihrem Wagen zurück. Bald hörte man den Zwerg schnarchen.
    Galileo und Jurema schliefen getrennt auf dem Zelt, das sie seit Ipupiará nicht mehr aufschlugen. Ein runder, leuchtender Mond führte ein Gefolge unzähliger Sterne an. Die Nacht war frisch, klar, ohne Geräusche, mit Schatten von Mandacarús und Kajubäumen. Jurema schloß die Augen, ihr Atem wurde gleichmäßig, während Gall, die Hände unter dem Kopf, auf dem Rücken neben ihr lag und in den Himmel sah. Es wäre blödsinnig, in dieser Wüste zu

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