Der Krieg am Ende der Welt
versucht. In dieser Nacht schwieg sie. Vielleicht war sie schon überzeugt, daß der Ausländer diese Dinge nie begreifen würde. Am nächsten Morgen nahmen sie ihre Wanderung wieder auf und überholten die Pilger aus Algodões. Sie brauchten einen Tag, um die Serra da França zu überqueren, und an diesem Abend waren sie so müde und hungrig, daß sie zusammenbrachen. Der Idiot war unterwegs mehrmals ohnmächtig geworden, und nach dem zweiten Mal blieb er so bleich und still, daß sie ihn für tot hielten. Der Abend entschädigte sie für die Mühen des Tages mit einem Brunnen grünlichen Wassers. Sie schoben die Pflanzen beiseite und tranken, und die Bärtige hielt dem Idioten die gehöhlte Hand an den Mund und bespritzte die Kobra mit Wassertropfen. Das Tier litt keine Entbehrungen, denn Blätter oder ein Wurm fanden sich immer, um sie zu füttern. Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, rissen sie Wurzeln, Triebe und Blätter ab, der Zwerg stellte Fallen. Ein leichtes Lüftchen nach der fürchterlichen Hitze den ganzen Tag über war ein Balsam. Die Bärtige setzte sich neben den Idioten und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Sie war um den Idioten, die Kobra und den Karren besorgt wie um ihr eigenes Schicksal, als hinge das Überleben ihrer Gefährten von ihrer Fähigkeit ab, sie zu beschützen.
Gall, Jurema und der Zwerg kauten langsam und lustlos, sie spuckten die Zweige und Wurzeln wieder aus, sobald sie den Saft ausgesogen hatten. Zu Füßen des Revolutionärs lag, halb in die Erde gegraben, etwas Hartes. Ja, es war ein Totenschädel, gelblich, zerbrochen. Solange er durch die Sertöes gezogen war, hatte er Menschenknochen an den Wegrändern gesehen. Jemand hatte ihm gesagt, daß manche Sertanejos ihre Feindewieder ausgruben und sie der Witterung aussetzten, den Beutetieren zum Fraß, weil sie glaubten, ihre Seelen dadurch in die Hölle zu schicken. Er untersuchte den Totenkopf in einem Sinn und im andern.
»Für meinen Vater waren Schädel Bücher, Spiegel«, sagte er wehmütig. »Was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich hier bin und in diesem Zustand? Als ich ihn zum letztenmal sah, war ich achtzehn. Jedesmal, wenn ich ihm sagte, die Aktion sei wichtiger als die Wissenschaft, war er enttäuscht. Er war ein Rebell auf seine Weise. Die Ärzte spotteten über ihn, sie nannten ihn einen Hexenmeister.«
Der Zwerg sah ihn an, versuchte, wie Jurema, ihn zu verstehen. Nachdenklich fuhr Gall fort zu kauen und auszuspucken.
»Warum bist du hierher gekommen?« murmelte der Zwerg.
»Hast du keine Angst, fern von deiner Heimat zu sterben? Du hast hier keine Familie, keine Freunde, niemand wird an dich denken.«
»Ihr seid meine Familie«, sagte Gall. »Und die Jagunços.«
»Du bist kein Heiliger, du betest nicht, du sprichst nicht von Gott«, sagte der Zwerg. »Weshalb redest du immerzu von Canudos?«
»Ich könnte nicht unter Fremden leben«, sagte Jurema. »Keine Heimat haben, das ist wie verwaist sein.«
»Eines Tages wird das Wort Heimat verschwinden«, antwortete Gall auf der Stelle. »Die Leute werden auf uns, die wir zwischen Grenzen leben und uns wegen Strichen auf der Landkarte gegenseitig umbringen, zurückblicken und sagen: Was für Narren sie waren.«
Der Zwerg und Jurema sahen sich an, und Gall fühlte, daß sie dachten, was für ein Narr er selber sei. »Glaubst du an das, was der Apostel aus Algodöes gesagt hat?« faßte sich der Zwerg ein Herz zu fragen. »Daß es eines Tages eine Welt ohne Böses geben wird, ohne Krankheiten ...«
»Und ohne Häßlichkeit«, fügte Gall hinzu. Er nickte mehrmals: »Ich glaube daran, wie andere an Gott glauben. Seit langem geben viele Menschen ihr Leben dafür hin, daß dies möglich wird. Deshalb rede ich immerzu von Canudos. Dort werde ich – schlimmstenfalls – für etwas sterben, wofür zu sterben sich lohnt.«»Dich wird Rufino töten«, stammelte Jurema und blickte zu Boden. Ihre Stimme wurde fester: »Glaubst du, er hat den Schimpf vergessen? Er sucht uns, und früher oder später wird er sich rächen.«
Gall packte sie am Arm.
»Und du gehst mit mir, um dir diese Rache anzusehen, stimmt es?« fragte er sie. Sie zuckte die Achseln. »Rufino wird es auch nicht begreifen. Ich wollte ihn nicht beleidigen. Die Lust rennt alles über den Haufen: den Willen, die Freundschaft. Es hängt nicht von einem selbst ab, es liegt in den Knochen, in dem, was andere die Seele nennen.« Er schob sein Gesicht nahe an das von Jurema: »Ich bereue es nicht, es
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