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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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enden, ohne Canudos gesehen zu haben. Es mochte etwas Primitives, Einfältiges sein, von Aberglauben durchsetzt, aber kein Zweifel: da war auch etwas anderes. Eine freiheitliche Stadt, ohne Geld, ohne Herren, ohne Polizei, ohne Priester, ohne Bankiers, ohne Fazendeiros, eine Welt, errichtet auf dem Glauben der Ärmsten. Wenn sie von Dauer sein würde, käme das übrige von selbst: der religiöse Aberglaube, die Trugbilder von einem Jenseits würden als überholt und nutzlos in sich zusammenfallen. Das Beispiel würde Schule machen, andere Canudos würden entstehen, und wer weiß ... Unwillkürlich lächelte er. Er kratzte sich am Kopf. Sein Haar war gewachsen, er konnte es mit den Fingerspitzen fassen. Daß er geschoren war, beunruhigte ihn, rief Seitenstränge der Angst in ihm herauf. Weshalb? Es war damals in Barcelona gewesen, als sie ihn kurierten, um ihn erwürgen zu können. Die Krankenstation, die Verrückten im Gefängnis. Sie waren geschoren und hatten Zwangsjacken an. Die Wärter waren gewöhnliche Verbrecher: sie nahmen den Kranken die Rationen weg, sie schlugen sie erbarmungslos und belustigten sich damit, ihnen kalte Duschen zu verabreichen. Das war das Gespenst, das zum Vorschein kam, sooft ein Spiegel, ein Bach, ein Brunnen ihm seinen Kopf zeigte: den eines dieser von Kerkermeistern und Ärzten gefolterten Wahnsinnigen. Er hatte damals einen Artikel geschrieben, auf den er stolz war: »Gegen die Unterdrückung der Kranken«. Die Revolution würde den Menschen nicht nur vom Joch des Kapitals und der Religion befreien, sondern auch von den Vorurteilen, mit denen die Klassengesellschaft der Krankheit begegnete: der Kranke, vor allem der Geisteskranke, war einOpfer dieser Gesellschaft, nicht weniger gepeinigt und verachtet als der Arbeiter, der Bauer, die Prostituierte, das Dienstmädchen. Hatte nicht eben erst der Apostel gesagt – und geglaubt, er spräche von Gott, während er doch in Wirklichkeit von der Freiheit sprach –, daß in Canudos Elend, Krankheit und Häßlichkeit verschwinden würden? War das nicht das Ideal der Revolution? Jurema hatte die Augen offen und beobachtete ihn. Hatte er laut gedacht?
    »Alles hätte ich darum gegeben, bei ihnen zu sein, als sie Febrônio de Brito schlugen«, flüsterte er, als spräche er Liebesworte. »Mein Leben lang habe ich gekämpft und im eigenen Lager immer nur Verrat, Spaltungen und Niederlagen erlebt. Ich hätte so gern einen Sieg gesehen, und wäre es nur ein einziges Mal. Um zu wissen, was man fühlt, wie das ist, wie das schmeckt: ein Sieg auf unserer Seite.«
    Er sah, daß Jurema ihn anblickte wie andere Male auch, distanziert und neugierig. Sie lagen nur Millimeter voneinander getrennt, doch sie berührten sich nicht. Der Zwerg hatte angefangen, leise im Schlaf zu sprechen.
    »Du verstehst mich nicht, ich verstehe dich auch nicht«, sagte Gall. »Warum hast du mich nicht getötet, als ich bewußtlos war? Warum hast du nicht die Capangas überredet, meinen Kopf mitzunehmen, statt mein Haar? Warum bist du bei mir? Du glaubst nicht an das, woran ich glaube.«
    »Derjenige, der dich töten muß, ist Rufino«, flüsterte Jurema, ohne Haß, als ob sie etwas sehr Einfaches erklärte. »Wenn ich dich getötet hätte, hätte ich ihm größeren Schaden zugefügt als du.«
    Das ist es, was ich nicht begreife, dachte Gall. Sie hatten schon mehrmals darüber gesprochen, und immer tappte er im finstern. Ehre, Rache, diese strenge Religion, dieser kitzlige Verhaltenskodex: wie sollte man sich das erklären an diesem Ende der Welt, unter diesen Menschen, die nicht mehr besaßen als die Fetzen und die Läuse auf ihrem Leib? Die Ehre, der Schwur, das gegebene Wort, diese Luxusartikel und Spiele der Reichen, der Müßiggänger, der Schmarotzer: wie war das hier zu verstehen? Er erinnerte sich, daß er eines Tages bei einem Volksfest in Queimadas vom Fenster seiner Pension aus einen Wandererzähler eine Geschichte hatte erzählen hören, die er alsKind gelesen und als junger Mann, in ein romantisches Vaudeville umgearbeitet, gesehen hatte: Robert der Teufel. Wie war sie hierher gekommen? Die Welt war unvorhersehbarer, als es den Anschein hatte.
    »Auch die Capangas verstehe ich nicht, die mein Haar mitgenommen haben«, murmelte er. »Diesen Caifás, meine ich. Mich am Leben zu lassen, nur um seinen Freund nicht um die Lust an der Rache zu bringen? Das ist doch nichts Bäuerliches, das ist etwas Aristokratisches.«
    Andere Male hatte Jurema es ihm zu erklären

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