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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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war ... lehrreich. Was ich früher glaubte, war falsch. Die Lust ist nicht unvereinbar mit dem Ideal. Man braucht sich seines Körpers nicht zu schämen, verstehst du? Nein, das verstehst du nicht.«
    »Dann ist es also doch wahr?« unterbrach ihn der Zwerg. Die Stimme versagte ihm fast, seine Augen flehten: »Sie sagen, daß er die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Aussätzigen wieder gesund macht. Wenn ich ihm sage: ›Ich bin gekommen, weil ich weiß, du wirst das Wunder vollbringen‹, wird er mich dann berühren und ich werde wachsen?«
    Gall sah ihn fassungslos an und fand keine Lüge und keine Wahrheit zu einer Antwort. Unterdessen begann die Bärtige vor Mitleid mit dem Idioten zu weinen. »Er kann nicht mehr«, sagte sie. »Er lächelt nicht mehr, er jammert nicht mehr, mit jeder Sekunde stirbt er dahin.« Noch lange hörten sie sie vor sich hinweinen, ehe sie einschliefen. Am Morgen weckte sie eine Familie aus Carnaiba, die schlechte Nachricht brachte. Patrouillen der Landgendarmerie und Capangas von mehreren Fazendeiros der Gegend hielten in Erwartung des Heeres die Ausfallstraßen von Cumbe gesperrt. Nur noch von Norden her konnte man nach Canudos gelangen, auf einem großen Umweg über Massacará, Angicos und Rosario.
    Anderthalb Tage später kamen sie in Santo Antônio an, einem winzigen Thermalbad an den grünen Ufern des Massacará. Vor vielen Jahren waren die Zirkusleute in dieser Siedlung gewesen, und sie erinnerten sich noch an den Zustrom der Leute, die in den sprudelnden und stinkenden Brunnen ihre Hautkrankheiten kurierten. Santo Antônio war aber auch ein bevorzugtesZiel der Banditen gewesen, die dort die Kranken ausraubten. Jetzt schien es verlassen zu sein. Sie sahen keine Wäscherinnen am Fluß, und in den gepflasterten Gassen, zwischen Kokospalmen, Feigenbäumen und Kakteen, war kein lebendes Wesen zu sehen, weder Mensch noch Hund, noch Vogel. Dennoch wurde der Zwerg guter Laune. Er nahm eine kleine Trompete, entlockte ihr ein paar komische Töne und rief die Veranstaltung aus. Die Bärtige lachte, und selbst der Idiot, so schwach er war, wollte mit Schultern, Händen und Kopf den Karren schneller voranbringen. Sein Mund stand offen, Speichelfäden tropften heraus.
    Sie stellten den Karren auf einen kleinen, mit Kletterpflanzen umwachsenen Platz; allmählich tauchten an Fenstern und Türen Gesichter auf, angelockt von der Trompete. Der Zwerg, die Bärtige und der Idiot wühlten in alten Kleidern und Gerätschaften, sie bemalten und schwärzten sich und kleideten sich in bunte Farben, und in ihren Händen erschien, was von ihrem Handwerkszeug übriggeblieben war: der Schlangenkorb, Bögen, Zauberstäbchen, ein Papierakkordeon. Der Zwerg trompetete wie wild und brüllte: »Die Vorstellung beginnt!« Nach und nach sammelte sich um die Zirkusleute ein Publikum wie aus einem Alptraum. Menschliche Skelette, undefinierbar nach Alter und Geschlecht, die meisten mit brandigen Gesichtern, Armen und Beinen, mit Wunden, Geschwüren, Ekzemen bedeckt, kamen aus den Häusern hervor, einer auf den andern gestützt, und füllten den Kreis um den Karren. Alle sahen wie Greise aus, vor allem die Kinder. Manche lächelten die Bärtige an, die sich die Kobra um den Hals wand, sie aufs Maul küßte und sie ihre Arme umschlingen ließ. Der Zwerg nahm den Idioten und mimte mit ihm die Nummer der Bärtigen mit der Kobra: er ließ ihn tänzeln, sich winden, sich verknoten. Die Leute von Santo Antônio und die Kranken sahen zu, ernst oder belustigt, beifällig die Köpfe wiegend, manchmal klatschend. Einige schielten zu Gall und Jurema hinüber, als ob sie sich fragten, wann diese zwei auftreten würden. Der Revolutionär betrachtete sie fasziniert, aber Jurema verzog ihr Gesicht in einer Grimasse des Ekels. Sie gab sich Mühe, sich zu beherrschen, aber bald flüsterte sie, sie könne den Anblick nicht ertragen, sie wolle gehen. Galileo beruhigte sie nicht. SeineAugen glühten, er war zutiefst empört. Die Gesundheit war genauso egoistisch wie die Liebe, der Reichtum und die Macht: sie schloß einen in sich selbst ein und löschte die anderen aus. Ja, es war besser, nichts zu besitzen und nicht zu lieben, aber wie sollte man auf die Gesundheit verzichten, um mit den kranken Brüdern solidarisch zu sein? Es gab so viele Probleme, die Hydra hatte so viele Köpfe, die Gemeinheit zeigte sich, wohin man sah. Er bemerkte den Ekel und die Angst Juremas und packte sie am Arm:
    »Sieh sie dir an, sieh sie dir an«,

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