Der Krieg am Ende der Welt
herunterkamen und im Galopp in Richtung Fluß preschten. Es schien, als müßten sich die Tiere auf diesem fast senkrechten Steilhang überschlagen, doch sie bewahrten das Gleichgewicht, sie sah sie vorbeirasen, ungestüm, die Beine als Bremsen benutzend. Ihr schwindelte von der raschen Abfolge der Gesichter und der Säbel, die die Offiziere hochhoben, sooft ein Hindernis in der Caatinga kam. Die Grasmänner sprangen aus ihren Löchern, aus den Zweigen und schossen ihre Flinten oder – wie der Jagunço, der mit ihnen im Graben gewesen war und nun bergab kroch – ihre wie Kobras zischenden Pfeile auf sie ab. Deutlich hörte sie die StimmePajeús: »Auf die Pferde, auf die, die Säbel tragen!« Die Reiter waren ihrem Blickfeld entschwunden, aber im Geist sah sie, wie sie in den Fluß einritten – unter Schüssen und fernem Glockengeläut hörte sie Wiehern – und plötzlich, ohne zu wissen woher, diese Pfeile und Kugeln in den Rücken bekamen, die die Jagunços auf sie abschossen. Der Caboclo ohne Nase schoß nicht. Mit den Händen dirigierte er die Grasmänner nach links, nach rechts, bergab. Da drückte ihr etwas gegen den Leib. Der Zwerg ließ sie kaum atmen. Sie fühlte ihn zittern, sie schüttelte ihn: »Sie sind schon vorüber, sie sind weg.« Doch als sie aufsah, war plötzlich wieder ein Reiter da, diesmal auf einem weißen Pferd, das mit wehender Mähne bergab lief. Der kleine Offizier hielt in einer Hand die Zügel, in der anderen schwenkte er den Säbel. Er war so nahe, daß sie das angespannte Gesicht, die brennenden Augen sehen konnte, und einen Augenblick später sah sie, wie er vornüber sank und sein Gesicht mit einemmal erlosch. Pajeú zielte auf ihn, und sie dachte, daß er es war, der auf ihn geschossen hatte. Sie sah das weiße Pferd tänzeln und eine dieser Pirouetten drehen, mit denen die Viehtreiber auf Festen angeben, sie sah es mit dem Reiter an seinem Hals den Weg zurücklaufen, die Höhe hinauf, und als es verschwand, sah sie Pajeú abermals zielen und – sicherlich – schießen.
»Gehen wir, gehen wir, wir sind mitten im Krieg«, schluchzte der Zwerg und drückte sich wieder an sie.
Jurema schimpfte ihn: »Schweig, Dummkopf, Feigling.« Der Zwerg verstummte, rückte ab und sah sie ängstlich, um Verzeihung bittend an. Das Getöse der Explosionen, der Schüsse, der Trompeten und der Glocken hielt an, und die Grasmänner verschwanden laufend oder kriechend auf dem bewaldeten Hang, der am Fluß von Canudos endete. Sie sah sich nach Pajeú um, und auch der Caboclo war nicht mehr da. Sie waren allein. Was sollten sie tun? Hier bleiben? Den Jagunços nachlaufen? Einen Weg suchen, der von Canudos wegführte? Sie fühlte sich so müde und alle Muskeln und Knochen so steif werden, als protestiere ihr Organismus gegen den bloßen Gedanken, sich bewegen zu müssen. Sie lehnte sich an die feuchte Grabenwand und schloß die Augen. Sie verlor sich, sank in Schlaf.Als der Zwerg sie schüttelte und sie hörte, daß er sich entschuldigte, sie geweckt zu haben, konnte sie sich kaum bewegen. Die Knochen schmerzten sie und sie mußte sich den Hals reiben. Nach den lang fallenden Schatten und dem gedämpften Licht zu schließen, war es Abend. Dieser dröhnende Lärm war nicht geträumt. »Was ist los?« fragte sie und fühlte, daß ihre Zunge trocken und geschwollen war. »Sie kommen, hörst du sie nicht?« murmelte der Zwerg und zeigte auf den Abhang. »Wir müssen nachsehen«, sagte Jurema. Der Zwerg hängte sich an sie, versuchte, sie zurückzuhalten, doch als sie aus dem Erdloch stieg, krabbelte er hinterher. Sie ging hinunter bis zu den Felsen und Dornbüschen, wo Pajeú gestanden hatte, und hockte nieder. Trotz des Pulverdampfes erkannte sie auf den Hängen vor ihr ein Gewimmel dunkler Figuren, und sie dachte, daß noch mehr Soldaten an den Fluß hinunterliefen, doch gleich darauf bemerkte sie, daß sie nicht bergab, sondern bergauf liefen, daß sie aus Canudos flohen. Ja, kein Zweifel, sie kamen aus dem Fluß, rannten, versuchten den Hang zu erreichen, und am anderen Ufer sah sie Gruppen von Männern, die auf die Soldaten schossen und einzelnen Uniformierten nachsetzten, die aus den Häusern herauskamen und das Ufer zu erreichen versuchten. Ja, die Soldaten rannten fort und die Jagunços waren es nun, die sie verfolgten. »Sie werden hierher kommen«, wimmerte der Zwerg, und sie schauderte, als ihr klar wurde, daß sie, auf die Vorgänge am Hang konzentriert, gar nicht bemerkt hatte, daß der
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